BLINDER FLECK UND “MISSING LINK”

Während Menschen bestimmte Fähigkeiten erst erwerben, z.B. lernen sie sich aufrichten und auf zwei Beinen gehen oder sprechen und denken, gelten Reflexe als angeboren. Neugeborene atmen und saugen von sich aus. So gesehen verkörpern sie beide Verhaltensweisen ohne sie lernen zu müssen. Allgemein verstanden, sprechen wir bei Reflexen von artspezifisch angelegten, koordinierten Mustern der Bewegung.

Reflexe führen bei Menschen – unabhängig von Kultur, Stamm und Familie – regelmäßig zu gewissen, abgestimmten Bewegungsabläufen. Unwillkürlich blinzeln sie und schützen die Augen, dank des Lidreflexes. Der gesamte Vorgang läuft automatisch ab, ganz ohne Beschluss oder Willen.

Jedes Schulkind weiß aber auch, dass es Reflexe kontrollieren und willentlich beeinflussen kann. Nur die Kleinen scheitern beim Spiel, wer blinzelt verliert! Bereits dieser Sachverhalt macht darauf aufmerksam, dass Individuen – hier der menschlichen Art – reflektorische Vorgänge nicht allein verkörpern, sondern in gewissen Grenzen verändern, gestalten und umwandeln können.

In diesem Aufsatz erkunde ich Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Lebewesen. Hintergrund und Startpunkt für meine Darstellung bietet Gleichsetzung von physischen Körper und Lebewesen.

Vom Siegeszug der Mechanik zur Mechanisierung des Lebens

Die physischen Vorgänge gleichen sich. Betrachten wir (Beobachter) Steine, Pflanze, Tiere und Menschen unter der Perspektive der mechanischen Körperlehre (klassische Physik à la Isaac Newton), so “verhalten sich” die individuellen “Körper” gleich.

Etwas schärfer und klarer formuliert: alle physischen Körper bewegen sich nach der gleichen, idealisierbaren und idealisierten Ordnung von Masse-Körpern. Die Aussage behauptet den Sachverhalt der Gleichförmigkeit und beansprucht die Übertragbarkeit seiner Geltung. Wir haben beides, die Annahme und den Anspruch “normiert”.

Warum normiert? Wir haben mit der Aussage postuliert, dass jeder einzelne Körper – egal ob Stein, Pflanze, Tier oder Mensch – sich unter vergleichbaren Verhältnissen immer wieder nach gleichen Mustern bewegt. “Alle” beansprucht nun, dass die Regel bzgl. gleichen Bewegungs-Verhaltens unabhängig von Ort, Raum, Zeit, Organisiertheit des untersuchten Körpers gelten wird.

Nicht anders als ein Stein, fällt ein Mensch zur Erde, und zwar mit einer durchschnittlichen Fallbeschleunigung von 9,81 m/s2. Wenn die Regel unter allen Umständen gelten muss, haben wir eine Gesetzesaussage von universeller Reichweite vor uns. Idealisiert sagt zunächst nur unter sonst gleichen Bedingungen. Der “durchschnittliche” Wert hebt bereits ab von der Tatsache, dass die Beschleunigung eines Massekörpers auf der Erde an unterschiedlichen Orten, z.B. an den Polen oder am Äquator unterschiedlich beschleunigt.

Ob es stimmt, sich so verhält und damit “wahr” ist, muss nicht länger – wie in den Jahrhunderten zuvor noch – geglaubt werden. Es lässt sich zeigen und belegen. Das geschieht, indem Forscher/*innen ihre Annahmen mittels des Aufbaus und Verlaufs von Versuchen operationalisieren und mit Einflussgrößen nach bestimmten Verfahren experimentieren, z.B. im Labor unter idealisierten Bedingungen mit einer gewissen Energie (Kraft oder Wärme) auf die verschiedenen “Körper” einwirken oder sie im luftleeren Raum fallen lassen.

Alle präsenten Forscher können anhand der Auswirkungen (“Effekte”) auf die Einwirkung (“Ursache”) prüfen, ob die Behauptung: Alle Körper unterliegen den gleichen physischen Bewegungsregeln zutrifft, und zwar anhand des beobachtbaren Verhaltens in situ, d.h. mittels Messinstrumenten und Messverfahren aufgezeichneten Nachweisen.

Sollten sie nicht präsent sein, besteht die Option den Versuchsaufbau und das Vorgehen zu wiederholen und das beobachtete Verhalten in ihren Versuchsreihen mit den dokumentierten Beobachtungsdaten anderer Experimentatoren/*innen zu vergleichen. Die prinzipielle und -fallweise tatsächlich praktizierte – Überprüfbarkeit bezeichnen wir mit Replizierarkeit und sprechen von intersubjektiv prüfbarer und geprüfter Forschung (z.B. Peer-Review der publizierten Erkenntnisse).

Stimmen die Beobachtungen, d.i. das gezeigte Verhalten mit der Voraussage oder Behauptung (Hypothese) nicht überein, dann hat die Versuchsreihe die Aussage widerlegt (falsifiziert). Stimmen die Beobachtungen, d.i. das gezeigte Verhalten mit der Voraussage oder Behauptung (Hypothese) überein, dann hat die Versuchsreihe die Aussage verifiziert.

Mit Hilfe von Instrumenten z.B. einer hochpräzisen Uhr lässt sich die Dauer der Bewegung und mit einem geeichten Maß lässt sich der zurückgelegte Weg messen. Zurückgelegte Wegstrecke und benötigte Dauer stehen – wie heute jedes Schulkind weiß – in einem Verhältnis, der Geschwindigkeit.

Mit Verhältnissen lässt sich rechnen. Das ist sehr praktisch. Wir können den Bedarf einer Größe bestimmen, wenn wir andere kennen. Damit kommen wir zu Vorhersagen. Ich kann – um ein einfaches Beispiel zu bringen – mit der Verhältnismäßigkeit von Weg/Zeit – also der Geschwindigkeit meines Transportmittels – exact die Zeit berechnen, die ich benötige, um die 234 km von A nach B zurück zu legen. So liefert uns das Navigationsgerät in unserem Wagen – mittels der durch Satelitten triangulierten aktuellen Position – immer wieder eine korrigierte Ankunftszeit am Zielort, berechnet aufgrund von Mittelwerten.

Beide Aspekte sind konstitutiv für das moderne Wissenschbaftsverständnis: anerkannte und bewährte Verfahren der Untersuchung und des Nachweises – Methodenkanon – und Vergegenständlichung und kritische Revision – Replizierbarkeit – durch die Gemeinschaft der Forschenden in diesem Fachgebiet. Der fachliche und sachlich beschränkte Gegenstand definiert schließlich die unterschiedlichen Disziplinen, die wir heute (aner-)kennen.

Schon der Methodenkanon separiert das Vorgehen der Geistes- und Naturwissenschaften, z.B. hermeneutische Methoden in Historik und experimentelle Verfahren in Physik. Der Gegenstand führt definitiv zur Unterscheidung in Fachgebiete, zur arbeitsteiligen Organisation von Forschung und Wissenschaft. Entgegen der Erwartungen von Menschen im 17./18. Jahrhundert führte die Entwicklung nicht zu einer umfassenden Einheit, sondern zur Einheit der Vielfalt.

Allein die schiere Menge an Wissen verschiedener Fachgebiete würde schon genügen, eine Integration zu verhindern. Doch der Grund für die partikuläre Verfassung unseres Wissen liegt in der Diversifikation. Sie treibt mitunter kuriose Blüten: Der Historiker schwärmt von den Taten Karls des Großen. Wähdend dieser Beleg um Beleg aus einem reichen Fundus von Dokumenten zitiert, bestreitet der Archäologe beharrlich die Existenz. Er findet schlicht keine Belege und erklärt bis zum Erweis des Gegenteils alle Schriftguellen für gefälscht.

Nach dieser kursorischen Darstellung der experimentellen Methodik zurück zu lebendigen Prozessen und menschlichem Verhalten. Unsere Kapitelüberschrift verlangt noch, dass wir den Bezug von der Köngigsmethodik der Naturwissenschaften, dem Experiment zur Mechanisierung bzw. Maschinisierung des Verständnisses von Lebewesen aufzeigen.

Reflexe, z.B.Würgreflex und auch Instinkte z.B. Fortpfanzungstrieb unterlegen für viele Forscher*innen die Annahme, dass Menschen und Tiere wie “Reiz-Reaktions-Maschinen” funktionieren. Physiologen, Psychologen und Neurologen gehen heute dabei weitgehend von den gleichen Voraussetzungen wie Physiker, Techniker und Ingenieure aus. Sie benutzen naturwissenschaftliche Modelle und Verfahren. Mittels experimentell-konstruktiven Methoden zeigen sie durch Versuche mit Tieren und Menschen – im Labor wie im Feld -, warum und wie Lebewesen, kaum anders als mechanische Apparaturen und Maschinen, funktionieren.

Das (psychische) Verhalten, die (vegetativen) Vorgänge und die (physischen) Bewegungen, diese drei sind – folgt man einer naturwissenschaftlich-ingenieurstechnischen Forschung – in erster Linie durch materielle Strukturen und funktionale Abläufe gesteuert: biochemische Faktoren z.B. Gene und wirksame Substanzen wie z.B. Hormone, Mineralstoffe, und Umfeldeinträge, z.B. Jodmangel, …

In immer anspruchsvolleren Designs und experimentellen Settings wollen Versuchsleiter und Laboranten aus den genannten Disziplinen belegen, dass das, was die Probanden in Boxen, Parcours und im Feld leisten, präzise bestimmt/gemessen, verlässlich vorhergesagt und ursächlich erklärt werden kann. Was Forscherinnen und Forscher an Ergebnissen, Erkenntnissen und Wissen destillieren, extrahieren, objektivieren, kommt in vielen modernen Produkten, Hilfsmitteln und Verfahren zur Anwendung.

Das Vorgehen mag effizient sein und das mechanistische Modell hat sich praktisch bewährt und nützlich erwiesen. Wie die Erfahrung belegt, entstehen nützliche Lösungen für Technik, Wirtschaft, Menschen und ihre Gesellschaften.

Vom Fluch und Segen moderner Wissenschaft

Die technische Verwertung und die praktische Anwendung umschreibt die Haben-Seite der Bilanz der Phase, die wir als Moderne bezeichnen. Wie unschwer bereits an einer einfachen Sammlung zu erkennen ist, birgt der technisch-wissenschaftliche Fortschritt “Fluch und Segen”. Beispiele sind die A-Bombe, Agent-Orange, Antibiotika, Anti-Baby-Pille, Aspirin, Autonomes Fahren, … Batterien, Bionik, … Dampfmaschinen, Drohnen, … Elektrizität, … Insulin, Internet, … Klonen, Künstliche Intelligenz, Psychotherapie, Thermostat, Ritalin, Wasserklosett …

Auch wenn die Methapher einem biblischen Kontext entstammt, verweist sie auf die entscheidende Rolle von Menschen in gleicher Weise, wie der “homo mensura” Satz des griechischen Skeptikers Prothagoras: wie wir die Dinge gebrauchen und wozu wir unser Wissen einsetzen, bestimmt die Auswirkungen. Und das liegt in unserer Hand und Verantwortung.

Auf der Soll-Seite hinterfragt ein zunehmend völlig werturteilsfrei operierender Wissenschaftsbetrieb seine Ergebnisse kaum noch. Zumindest fehlt eine immanente Beurteilung der ungeplanten Folgen rational-szientistischer Entscheidungen und darauf gründender empiristischer Forschungspraxis in den laufenden Forschungsprozessen. Im Nebeneffekt laufen Pathologisierung, Psychologisierung und Entfremdung vom menschlichen Selbst zum gesellschaftlichen Problem auf, das m. E. eine in-formierte Revision erforderlich macht.

Mit dieser Untersuchung gehe ich davon aus, dass Pathologisierung, Psychologisierung und Entfremdung des Menschlichen im Menschen aktuelle und potenzielle Herausforderungen für Menschen in allen Beziehungsformen darstellen. Soweit meine Annahme einer globalen Verbreitung der mit den Begriffen subsumierten Phänomene zutrifft, handelt es sich um gesellschaftlich bedingte Problemfelder. Eine Lösung kann deshalb weder physiologisch noch physikalisch, weder biotechnisch noch psychologisch, weder durch reduktionistisch-mechanistische noch durch holistisch-systemische Methoden gelingen. Das einfachste Argument lautet: weil mehr von dem Gleichen, was bislang versucht wurde und zur Existenz beigetragen hat, keine qualitative Änderung des zugrunde liegenden Musters erwarten lässt.

Erinnern wir uns, aus einer szientistischen Perspektive betrachtet, bedingen und bestimmen eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren und Wirkstoffe ggf. im Zusammenspiel – meist jedoch unter dem Primat von einem Erklärungsprinzip -, was geschieht und unterbleibt. Aktuell – und mit der Entschlüsselung der DNS-Strukturen (Desoxyribo-Nuklein-Säure engl. DNA) des Genoms – hat vorüber gehend die Genetik den Sprung an die Spitzenposition vollzogen.

Vom Jahr 2000 -2020 lässt sich der Sprung anhand der Volumen von Forschungsmittel, gestarteten Programmen und veröffentlichten Erkenntnisbeiträgen belegen. So beachtlich die erzielten Ergebnisse von den forschenden und bemittelnden Instanzen auch beurteilt werden, insgesamt und im Effekt haben sie eine Ernüchterung – in Bezug auf die eingangs hohen Erwartungen – bezeugt. Wir haben kein Patent-Mittel gegen Krebsleiden, Herzinfarkte, Kriminalität und Katastrophen in Händen und brauchen weit mehr Mittel als erwartet mit weit weniger Effekten als erhofft.

Auf der anderen Seite der Bilanz steht die gezielte Manipulation menschlichen Erbgutes. Das immer wieder strapazierte Argument, die Ersetzung von Sequenzen des Genoms, die Krankheiten auslösen. Seit den 1970 forschen Molekularbiologen an den Schlüsseln für die Manipulation mit zweifelhaften Erfolgen. Mit CRISPR haben die Forscherinnen und Forscher schließlich einen entscheidenden Fortschritt errungen.

CRISPR has revolutionized the field because it is as robust as, if not more so than, the existing tools in terms of editing efficiency. More importantly, it is much simpler and more flexible to use. The CRISPR gene-editing technology, as we know it today, is composed of an endonuclease protein whose DNA-targeting specificity and cutting activity can be programmed by a short guide RNA. Notably, CRISPR had been simply known as a peculiar prokaryotic DNA repeat element for several decades before it was recognized as the bacterial immune system and subsequently harnessed as a powerful reprogrammable gene-targeting tool. CRISPR stands for clustered regularly interspaced short palindromic repeat DNA sequences. [Adli 2018:2]

2018 hat ein chinesischer Forscher, He Jiankui, entgegen aller bisher versicherten bioethischen Grundsatzentscheidungen, mittel CRISPR bei zweieiigen Zwillingen in die embryonale Entwicklung aktiv eingegriffen. Wir vermuten, zunächst um zu zeigen, dass die Forschung dazu fähig ist 1. Bei diesem Experiment handelt es sich um eine Veränderung des Erbgutes, ein sogenantes “germline editing”. Sie ist im Unterschied zur “somatischen” Manipulation des Genoms, vererbbar. Die Frage ist so folgenreich wie kontrovers Should we edit the human germline

Bei allem Optimismus, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt kennzeichnet “Vorläufigkeit des Wissens” (Karl Raimund Popper).

Blinder Fleck und fehlende Kopplung

Um eine qualitative Änderung zu erzielen, bedarf es einer substanziellen Reform: nicht Symptome und Ursachen-/Faktorenbündel bieten hier eine Orientierung, sondern die Verflechtung von Menschen untereinander und mit ihrer Umwelt. Zunächst gilt es den blinden Fleck aufzuspüren. Die Eineitigkeit der Verwertungsperspektive ohne Einsicht in die ungeplanten Folgen rational-empirischer Praxis dient uns als Hinweis auf einen blinden Fleck. Etwas verhüllt den klaren und deutlichen Blick auf die tiefe Verflechtung von lebendigen Vorgängen und wechselwirksamer Einflussnahme.

Ich beanspruche nicht die Symptome zu beseitigen, ich ziele auf die fehlende Verbindung zwischen Naturwissen und Geisteswissen. Die arbeitsteilige Organisation der Wissensgenese sorgt für eine hocheffiziente Produktion von verwertbaren Einsichten. Sie sind kaum noch durch Werturteile behindert, allein sachliche z.B. Forschungsmittel, Wagniskapital, zeitige z.B. zu früh – rechtzeitig – zu spät und massenmediale z.B. populär-unpopulär orientieren eine potenzielle Verwertung in technischer und praktischer Hinsicht oder verunmöglichen sie (Vgl. hierzu Henry T. Greely, 2021: CRISPR People. The Science and Ethics of Editing Humans. MIT Press).

Kritisch betrachtet hilft viel aber nicht zwingend viel. Sondern um wirklich zu lernen – und nicht nur die Menge an nicht-integriertem und nicht-integrierbarem Know-How – aufgrund der fehlenden Verknüpfung und Synthese – weiter zu vermehren, gilt es die Interdependenz von Kultur und Technik, die Einheit von Natur und Geist, von Bewusstsein und Kommunikation, Psyche und Gesellschaft und nicht zuletzt das intime Verhältnis von Irrtum und Wahrheit mit all seinen Paradoxien in Bezug auf die Verflechtung von belebten Körpern und aufmerksamkeitsfokussierter Kontrolle zu erkennen und zu entfalten.

Wenn wir lebende und leblose Körper – unter dem Blickwinkel der Mechanik – gleich behandeln, ignorieren wir dabei, dass die Vertreter der drei letztgenannten Bereiche – Pflanzen, Tiere und Menschen – lebendige und damit “eigenreaktive” Bewegungen zeigen. Oder anders herum, für die Physik und für die Technik mag sowohl der Kausalnexus als auch die Mechanisierung herausragende Entwicklungen ermöglicht haben. Doch die Übertragung von Linealität des Kausal-Prinzips und die Idealisierung von Materie-Prinzipien, wie sie für Naturgesetzlichkeiten erster Ordnung fraglos zutrifft, nivelliert die Differenz, die u.E. einen entscheidenden Unterschied macht.

Die Einsicht liefert die Grundlage für eine Reformulierung der Leitidee mittels derer man bislang Probleme untersucht, dabei – trotz vernünftiger und empirischer Vorgehenstechniken – die eigene Herangehensweise wenig kritisch außen vor lässt. Man verfährt so als könnte das praktizierte Vorgehen nicht auch ebenfalls zum Ursachenkomplex beitragen, der zwar Erlösung intendiert, eine Lösung der tiefer angesiedelten Herausforderung aber verunmöglicht.

Unter den Punkten Blinder Fleck und Missing Link verfolge ich ein entsprechend diametral gelagertes Interesse, ohne ein Quantum meiner Energie an die Kritik selbst verschwenden zu wollen. Ich wünsche mir, dass die Resultate und Erträge Menschen dazu anregen, mehr Menschlichkeit zu wagen. Dadurch kann eine menschlichere Gesellschaft möglich werden, als ohne die Einsichten auf die ich abziele und hinaus will.

Eine Reform wie ich sie hier betreibe, geht von den Bedingungen der Möglichkeit und Notwendigkeit des Lebendigen aus. In einem ersten Schritt rekonstruiere ich die Einsicht, dass das primäre Produkt “somatisch” organisierter Körperlichkeit lebendige Vorgänge sind. Wie die Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela postulieren, erschafft sich das Leben buchstäblich von selbst. Autopoiesis stellt genau diesen Umstand auf zellularer Ebene fest, erklärt jedoch nichts weiter, wie Maturana immer wieder betont hat. Gleichwohl lohnt eine Beschäftigung mit dem Ansatz.

Die Tatsache, dass Biologen das Konzept heute weltweit in ihren Kanon einbeziehen und zur Definition von “leben” heranziehen (vgl. Max-Planck Gesellschaft für Deutschland), spielt zwar eine beachtliche, für meine Argumentation jedoch eher eine nachgeordnete Rolle. Definitionen sind wichtig, um sich zu verständigen. Sie sind notwendig – “per definitionem” und damit immer schon – tautologisch aufgebaut. Deshalb erklären definitorische Konzepte nichts, sondern stellen allein sicher, dass auf der einen Seite der Gleichung dasselbe bei rauskommt, wie auf der anderen.

Als integrales Moment von Begriffssprachen markieren sie allerdings einen Unterschied, der einen Unterschied ausmacht. Uns (Leser, Adressaten, Zuhörer, Kollegen) informieren und orientieren Konzepte wie Autopoiesisdarüber, was der “Beobachter” für eine Sichtweise bevorzugt, wie sie oder er an die Dinge – hier zum Beispiel den Objektivismus, den Monismus, den Darwinismus, … – herantritt und sich dazu einstellt, denkt und positioniert.

Dieser Einschub wiederum macht ein weiteres Mal deutlich, welche erkenntnistheoretische Position ich beziehe und bereits als Teil der Lösung postuliert habe: eine Einstellung zweiter Ordnung. Diese Sichtweise ist für einen Soziologen und soziologisch forschenden Sozialpsychologen nichts Ungewöhnliches, da wir (Beobachter) immer schon Teil unseres Gegenstandsfeldes sind und lernen, uns zu distanzieren. Spätestens jedoch mit der Einführung einer Kybernetik zweiter Ordnung hat Heinz von Foerster die distanzierte Einstellung weit allgemeiner gefasst und mit dem Passus der Beobachtung von beobachtenden Systemen verknüpft. Durch den Abstand tritt die Beziehung von Betrachter und Gegenstand in das Blickfeld und erlaubt u.a. die Relativierung des Objektivismus, wie sie typisch für den Ansatz von Maturana und Varela ist.

Obwohl ich beiden Forschern viele Einsichten verdanke und manches ähnlich betrachte, stelle ich den Begriff einer epigenetischen Wirklichkeit an den Anfang. Mit dem Begriff der epigenetischen Wirklichkeit beziehe ich mich einerseits auf die Untersuchungen des Griechen Aristoteles und andererseits auf eine modallogische Rekonstruktion dessen, was Lebewesen – wie das Hühnerei des Aristoteles -praktisch notwendig verkörpern. Hat das Leben einmal begonnen, ist das Lebewesen von Schritt zu Schritt abhängig, angewiesen und ausgerichtet auf eine passende Entwicklung in einem bestimmten Existenzbereich, um die vegetativen, animalischen und pragmatischen Vorgänge zu verwirklichen. So gesehen ist leben mehr oder weniger eine unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit. Findet ein Individuen nun nicht die erforderlichen Bedingungen für seine Spezies vor, sind die Lebensprozesse z.B. Embryogenese, die gesamte Ontogenese und die Chance zu überleben insgesamt gefährdet. Wie unwahrscheinlich leben im Einzelfall ist, muss das Lebewesen von Zwischenfall zu Zwischenfall erfahren und interaktiv erweisen, dass es trotz aller Risiken weiter leben vermag.

Praktische Erfahrung und lebendige Verkörperung

Die nachfolgende Untersuchung zur praktischen Erfahrung und lebendigen Verkörperung des Menschlichen im Menschen orientiere ich an einer überprüfbaren Prämisse und zwei Leitthesen. Es gibt Lebewesen, i.e. materielle Körper, die von sich aus – eigenständig, eigennmächtig und eigengeregelt, kurz: eigenwertig – leben. Wir bezeichnen sie im Unterschied zu anorganischen Einheiten als lebendige Einheiten, Lebewesen oder Organismen. Soweit unsere Voraussetzung, postuliert als Existenzaussage, ergänzt um eine definitorische Abgrenzung. Nun die zwei Leittheoreme:

  1. Epigenetisch bedingte Interaktionsweisen: Jede Lebensform bemerkt, bewegt und bewirkt das fortlaufende Wechselspiel mit Ereignissen eines strukturell bedingten Milieus – z.B. einer ökologischen Nische -, aufgrund von bestimmten und fokussierten Auswirkungen. Da Lebewesen eigenwertig im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Notwendigkeiten operieren, d.h. aufgrund von veränderlichen Binnen-Zuständen und eingelagerten Mustern der Aufmerksamkeit der individuellen wie der artspezifischen Genese interagieren, betrachten wir (Beobachter) sie als primäre “Energieproduzenten und Sinnstifter” ihrer Interaktion mit veränderlichen Einflussgrößen und bedingten Auswirkungen.
    Die allgemeine Sinnfrage – für Lebewesen wie für uns Beobachter – lautet: “Wozu/Wofür?”. Natürlich formulieren ausschließlich wir Menschen Fragen, d.h. mit diesem heuristischen Kunstgriff umschreiben wir die existenzielle Situation prinzipiell jeder Lebensform, ob sie sich fortpflanzt oder knospt oder künstlich entsteht, z.B. weil ein Kamelhaar eine Teilung initialisiert. Die – existenziell notwendige und konkret mögliche als auch unmögliche – “Antwort” im Fall von Lebewesen lautet: “um immer wieder weiter zu leben, zumindest bis auf weiteres”. Notwendig ist diese “Antwort”, weil sie die Existenz auf Dauer – und damit sicher – stellt. Die Fortsetzung, i.e. die Wiederholung lebensnotwendiger Vorgänge erfüllt die grundlegende Bedingung, den Grund für den modus operandi jeder Lebensform: leben. Wenn eine lebendige Einheit stirbt, ist sie Umwelt und toter Körper. Möglich und unmöglich zugleich ist die Antwort, solange offen bleibt, ob die notwendige Fortsetzung tatsächlich gelingt oder nicht doch scheitert, was eben noch ganz praktisch – solange das Leben währt – immer wieder zu zeigen sein wird. Beides zusammen – Notwendigkeit und Möglichkeit zu überleben – konstituiert die epigenetische Wirklichkeit verkörperter Erfahrung von Lebendigkeit von Individuen, Bevölkerungen und Spezies in situ.
  2. Plastiable Dispositionen der Wirklichkeit: verkörperter Lebendigkeitserfahrung: Wie andere Lebewesen bemerken, bewegen und bewirken Menschen im Wechsel mit eigen-, mit- und umweltlichen Variablen bestimmte Einflüsse und Auswirkungen auf laufende Lebensvorgänge. Unter einem formalen und medialen Blickwinkel vollziehen wir (Lebewesen) fortgesetzt somatische Übergänge. Im Unterschied zu Tieren – insbesondere Säugetieren und Primaten – unterscheiden sich Menschen bei allen unbestrittenen Ähnlichkeiten durch folgende Kriterien:
  • Konkrete Ungleichartigkeit der Großhirnentwicklung
  • Spezifische Unspezialisiertheit im Wechselspiel mit Umwelt
  • Faktische Verflechtung von Eigen- und Gruppenidentität (Insuliertheit menschlicher Individuen in Gruppen) durch Abhebung und Distanzierung vom Körper-Anpassungsprinzip

Aufgrund dieser Besonderheiten entwickeln, beeinflussen und gestalten Menschen bestimmte Aspekte der epigenetischen Wirklichkeit also der – physischen, organischen, seelischen und mentalen – Erfahrung ihrer Körperlichkeit in originärer Weise. Mit Blick auf die Tatsache, dass Menschen lernen können und lernen müssen, wie sie handeln, erleben und sich miteinander verständigen, bezeichne und begreife ich ihre Verkörperungsform als plastiabel.

Ohne Schwierigkeit können wir darauf achten, wie wir ein- und ausatmen: Aus – Ein. Dieser Vorgang findet unwillkürlich statt. Wir müssen nicht überlegen, noch daran denken, wir tun es einfach, atmen im Schlaf, beim Laufen, Gehen, Essen und auch dann, wenn wir komplett vergessen, dass wir atmen. Solange Luft um unsere Nasenflügel streicht, atmen wir normal. Liegt dagegen Wasser an, ist es keine gute Idee einzuatmen, sondern wichtig dafür zu sorgen, dass zunächst Luft um unsere Nasenflügel streicht. Menschen verkörpern diesen Vorgang und seine “Logik” schon ein gutes Stück vor der Geburt. Lapidar ausgedrückt, der Fötus beginnt erst zu atmen, wenn die Möglichkeit besteht.

Die Atmung setzt reflektorisch mit der ersten Aspiration ein und bleibt – dank des vegetativen Nervensystems – bis auf Weiteres auf Dauer gestellt. Analog verhält es sich mit allen Vorgängen und originären Prozessen: lebendige Systeme leben von allein, sie sind selbst-bezüglich organisiert und bewegen sich selbst.

Herz-Kreislaufsystem, Verdauungsapparat, Hormonregulation, Prozesse des Gehirns und des gesamten Nervensystems (ZNS), Reifung, Wachstum und Entwicklung, … benennen einige eigenständig vollzogenen Bewegungen bei Säugern. Sie halten das Leben in Gang. Wenn wir korrekt formulieren wollen, müssten wir sagen, jedes Lebewesen hält das Leben von selbst – aufgrund der konstitutiven Bedingtheiten seiner Existenz – am Laufen.

Mit der ersten These strapaziere ich die Tatsache, dass sich alle Lebensformen “selbsttätig” “organisieren”. “Lebendig-sein” geschieht vorgänglich/fortlaufend/kursiv – immer wieder und bis auf weiteres – aufgrund bestimmter somatischer Aufbau- und Ablaufstrukturen. Die Organisation fällt von Lebensform zu Lebensform mehr oder weniger verschieden aus. Der Vorgang selbst – effektives Operieren im jeweiligen Medium (Maturana & Varela)- erfolgt im Blick auf strukturbedingte Möglichkeiten und Notwendigkeiten (Nicolai Hartmann). Mit anderen Worten wir (Beobachter) argumentieren modallogisch und autopoietisch. Ich komme auf beide Verfahren zurück, möchte an dieser Stelle aber darauf hinweisen, dass beides keine Erklärungsprinzipien sind.

Die Grundstruktur lebendiger Systeme basiert jedoch meist auf kreisläufig miteinander vernetzten Komponenten und Unterkomponenten. “Nahtstellen” erlauben und kanalisieren die Vermittlung von Kon-Versionen z.B. der Übermittlung von Auswirkungen im Verhältnis von Lebewesen und Umfeld. “Schaltstellen” regulieren die Integration rück- und vorausgemeldeter Lenkungsmaßnahmen. Dies geschieht – unabhängig von der besonderen Lebensform – in-formiert, d.h. in Form von leibkörperlich erfassten, vermittelten und markierten Unterschieden, also Übergängen von einem Zustand zum nächsten. Deshalb spreche ich von Epigenesis. Die Differenz gegenüber den voraus verkörperten Status, z.B. einer Entwicklungsphase macht nun für die lebendige Einheit innerhalb der mitlaufend stattfindenden Vorgängen einen unmittelbaren oder mittelbaren Unterschied aus. Dieser Umstand tritt immer genau dann und dadurch ein, wenn die Einheit bemerkt, dass der Zustand status quo ante im Kontrast zum status quo variiert und zwar so “nachhaltig”, dass die Veränderung im Verhältnis direkt oder indirekt die mitlaufenden Lebensvorgänge “irritiert”. Irritation heißt, dass das, was eine Einheit immer schon vorgänglich praktiziert, wird um-, ab- oder gegengelenkt. Ist die Auswirkung der Irritation bedeutsam – und das bestimmt allein die Einheit aufgrund strukturbedingter Übergänge – wirkt die Lebensform auf das Geschehen ein und zurück und versucht es so zu beeinflussen, dass die existenziellen Vorgänge wieder weiter laufen. Da dieses Ergebnis zwar notwendig für das Weiterleben, der Ausgang der Interaktion jedoch keinesfalls von vorne herein sicher ist, sondern sowohl möglich als auch unmöglich bleibt bis zum faktischen Erfolg, haben wir Beobachter es mit einem stochastischen Prozess zu tun.

Mit anderen Worten, wir (Beobachter) betrachten Regelkreisläufe. Sie variieren mit der Option rekursiver und prokursiver Abschwächung/Verstärkung der Auswirkung von ein-, durch- und ausfließenden Übergängen durch den historisch gewachsenen Zustand der strukturellen Kopplungen. Kybernetiker sprechen von Profileration und Systemen mit variablen Binnen-Zuständen.

Im Blick auf “leben” als eine Prozedur eigenen Ursprungs, zeigen Lebewesen also analoge Schwellen und isomorphe Prozesse. Im Unterschied dazu zeigen unbelebte Körper und artifiziell aufgebauten Maschinen mit Innenzuständen (A. Turing) digitale Übergänge.

Mein Interesse gilt Menschen und meine Aufmerksamkeit dem Rätsel, wie Menschen sich selbst gestalten und regulieren. Der Fokus liegt auf dem durch originäre Aufbau- und Ablaufstrukturen gerahmten Möglichkeiten und Einschränkungen menschlicher Erfahrung. Auch wenn ich mich in erster Linie für spezifisch menschliche Erfahrungen interessiere, Ausgangspunkt meiner Untersuchung bildet eine Gemeinsamkeit lebendiger Systeme im Unterschied zu künstlichen also technischen Gebilden, wie Thermostaten, Dampf- oder Rechenmaschinen: ihre eigenwertig bewerkstelligte Beweglichkeit. Denn das Produkt ihrer Vorgänge ist ihre Lebendigkeit in einer Vielfalt von Varianten.

Konstitutiv – im Blick auf die “Leistungsfähigkeit” (Kondition) lebendiger Gebilde – tritt neben die konstitutionelle Organisation und die dispositionelle Verwirklichung ein drittes wesentliches, ja entscheidendes Moment: die strukturelle Kopplung zwischen bewegen und bemerken. Sie findet in Gestalt und Medium des belebten Körpers, der Soma, ihr Aus- und Eindruckspotenzial. Beides bildet die notwendige Bedingung für bewirken. “Bewirken” schließt die Trias und verleiht der Kopplung aus “bemerken” und “bewegen” einen “sinnhaften” Impakt. An dieser Stelle können wir ohne vorzugreifen nur feststellen, dass die somatische Kopplung von bemerken und bewegen verantwortliches Movens für Manipulation und “Kontrolle” von Einflussverhältnissen ist.

Die damit thematisierte Trias ist hier und in der jetzigen Phase unserer Erörterung zunächst wenig mehr als eine konzeptionelle Leerstelle. Modallogisch sprechen wir von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer Verwirklichung von Einflüssen. In konkreten Fällen also wechselseitig gelagerte, mindestens bipositionale und bidirektionale Einflussnahmen beteiligter Einheiten. Ein- und Ausdruck sind auschließlich möglich durch jede in-formierte und vermittelte, voraus-, hin- und rückgerichtete Einflussnahmen auf die Beziehung von Lebewesen und Umfeldraum, z.B. Interaktion, Verständigung, Integration. Die Soma übernimmt eine Schlüsselrolle der eigenmächtig regulierten “Vorgänglichkeit” (Prozeduralität/Prozesshaftigkeit), die wir (Beobachter) mit “leben” erfassen und wir (Lebewesen) verkörpern.

Mit der zweiten These thematisiere ich “Verkörperung” als leibhafte Wechselbeziehung eines Lebewesens zum Ort, zur Lage, zu Um- und Zuständen und zu Übergängen. Alle Lebewesen verkörpern eine strukturell bedingte Beweglichkeit und Sinnlichkeit relativ zu ihrer faktischen Umwelt(Herrmann Leggewie), und zwar in einer doppelten Beziehung: formal und medial.

Verkörperung bezeichnet zum einen die topische Tatsache leibhaftigen “in einem sinnlich-beweglich bewegten Körper” vor-Ort-Seins eines Lebewesens und zum anderen den fortlaufenden organischen Prozess vermittelter Entwicklung und Reifung im Bezug auf den status quo ante, die Epigenese. Unter diesem Blickwinkel scheint das Konzept der Epigenese mit der Entwicklungsgeschichte oder Ontogenese zusammen zu fallen. Das kann ich weder bestreiten noch will ich es beanspruchen, da ich diesem Pfad hier nicht weiter nachgehen möchte.

Es geht mir um den Prozess des Über-Lebens, um jene selbstbezüglich lebendige “Vorgänglichkeit”, die ich allem Lebendigen als Grundfähigkeit zuschreibe: es gibt lebendige Körper. Die Festellung klingt naiv, spricht sie doch eine allzu offensichtliche Tatsache aus. Sie stellt aber einen ganz und gar nicht-trivialen Sachverhalt dar: die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Unmöglichkeit von Leben und seine Wirklichkeit als Faktum.

Wie ist der somatische Vorgang organisiert, dass Lebewesen sich selbst bewegen, bemerken und bewirken, indem sie notwendig unter Bezug auf eigene Zustände und Übergänge in einem Milieu operieren, ohne dabei an den zahllosen Auswirkungen bedingt durch praktische Wendungen und Ereignisse sofort und immer wieder zu scheitern? Mit anderen Worten “leben” bezeichnet zwar einen somatischen und autonomen, doch einen denkbar unwahrscheinlichen Vorgang, den jede Lebensform notwendig immer wieder möglich macht und bis auf weiteres verwirklicht, indem sie operiert, wie sie operiert. Die Basis lebendiger Operationen – soviel scheint klar – gründet konstitutiv betrachtet auf der Verbindung von anorganischen und organischen Teilen zu einem Ganzen.

Die Fähigkeit einer vitalen Einheit verkörperte Prozeduren zu gestalten und interaktive Lern-Erfahrungen zu verkörpern, nenne ich plastiabel. Die Fähigkeit relativ dauerhaft verkörperte Verhaltensweisen zu verändern und zu formen, und zwar aufgrund von interaktiven Erfahrungen aus Verläufen und Wendungen, Schmerz und Lust, … insbesondere Irrtümern, sowohl gewohnte – also eingelebte als auch eingeborene – Muster der Wahrnehmung und Bewegung umzugestalten, nenne ich Plastiabilität. Das Eigenschaftswort “plastiabel” gibt es – soweit ich weiß – bislang nicht, ich habe das Kofferwort aus zwei Wörtern zusammen gesetzt: Plastizität 2 und Variabilität. Das erste steht zwar für Formbarkeit – von codierten Mustern nicht zuletzt des Gehirns – schien mir aber alleine wegen seiner Bedeutungsgeschichte in der Anthropologie zu kurz angelegt. Variable steht für die zeitliche, örtliche, organische, individuelle und soziale Mittelbarkeit eines (historischen) Zustandes und bezeichnet eine veränderliche Größe, während Variabilität, die Veränderlichkeit selbst und damit das Prozesshafte zum Thema macht. Mit Variabilität geht es mir um die Bedingtheit von anpassenden Veränderungen. Beidem, der Form- und Mittelbarkeit inkorporierter Muster der Erfahrung gilt also mein Hauptinteresse.

Formulieren wir die Frage umfassender mit Plastiabiliät im Blick: Warum können Menschen als Art, als Gruppe und als Individuen überhaupt beeinflussen, was, wie und wozu sie denken, fühlen, sprechen, handeln und erleben? Oft führten und führen Bearbeitungen der Frage bedingt durch paradigmatisch polarisierte Annahmen zu einseitigen Antworten. Deshalb sehe ich Bedarf, die Frage aufzugreifen und sie ausgewogen anzugehen. Mein Versuch ist bescheidener und umfassender zugleich. Ich forsche nach dem Grund für beides, dem Prinzip für die Möglichkeit der Erfahrung von Spielraum und Gußform, nicht nach den Ursachen für das eine oder das andere.

Die Untersuchungsfrage klärt zunächst den Zusammenhang von instinktgesteuerter Verhaltenskoordination und inkorporierten Erfahrungsmustern. Ich vermute nun, dass die Chance zur eigenmächtigen und freigestellten Verhaltenskoordination bei Lebewesen im strukturbestimmten Wechsel mit Spiel- und Freiräumen entsteht. Bei Menschen kommt dabei die konkret ungleichartige Entwicklung des Neocortex zum Tragen und der Umstand, wie unspezifisch Menschen im Verhältnis zu ihrem Existenzbereich spezialisiert sind. Auf beides gehe ich im folgenden Abschnitt ausführlich ein.

Die Erfahrung der Auswirkung bildet die Basis für das Abziehen und Übertragen der Erfahrung auf analoge Gegebenheiten. Über wiederholtes Anwenden einer Vorgehensweise, wird die sonst flüchtige Erfahrung als praktische Fähigkeit angeeignet und eingelebt. Sind wir vor diesem Hintergrund auch fähig unser Verhalten zu ändern, wenn wir es in Gestalt von Gewohnheiten und Routinen als relativ dauerhafte und stabile Handlungs-und Erlebnisbereitschaften ein- und abgelagert haben?

Epigenetische Operationsweisen

Lebewesen operieren aufgrund von veränderlichen Zuständen und eingelagerten Erfahrungen.

Im Blick auf “leben” als eine Prozedur eigenen Ursprungs zeigen Lebewesen jedoch analoge Kennzeichen und isomorphe Prozesse. Mit dem Begriff “Leben” begreife ich in dieser Arbeit die Bedingung der Möglichkeit eigenständiger, rekreativer Organisationsformen, Zellen, Pflanzen, Tiere, Menschen. Ganz allgemein bezeichnen wir damit die Ergebnisse eines multimolekularen Vorgangs.

Organische Systeme bilden durch rekursive Vorgänge eine konstitutive Grenze, z.B. Membran, Haut, … aus. Dadurch scheiden und behaupten sie sich operativ gegenüber der Umgebung. Derart abgeschlossene Systeme integrieren sich zugleich in das ausgeschlossene Umfeld, indem sie in spezifisch regulierter Weise anschließen und so bedingt offen mit einer selegierten Umgebung interagieren.

Die Regeln des Austausch spezifiziert jede Lebensform aufgrund der für die Art je besonderen Bedingungen der Lebensfähigkeit. Lachse und Delphine leben in der gleichen Umgebung, ihr Überleben aber hängt von anderen Variablen der Eigenständigkeit ab. Die Strukturen einer unterschiedlichen Körperlichkeit erfordern andere Strategien, z.B. muss das neugeborene Delphinjunge an die Luft.

Die erste These unterstreicht die strukturelle Selbstgestaltung und Selbstregulation des Lebendigen im Werden. Sie hat – wenn überhaupt – geringen Erklärungswert. Das “Selbst” liefert genauso wenig einen erklärenden Faktor wie “Geist” und “Materie”.

Mit dem Begriff bezeichne ich eine signifikante Besonderheit belebter Körper im Unterschied zu unbelebten Körpern: sie beleben sich selbst, bewegen sich eigenständig und regulieren sich eigenwertig. Das Konzept der “Selbst-Organisiertheit” lebendiger Einheiten oder lebender Systeme verweist auf spezifische Strukturen, welche den “Aufbau”, den “Ablauf” und die “Beweglichkeit” von Prozessen bei unterschiedlichen Lebensformen bedingen und bestimmen.

Allerdings beobachten wir mit “Selbst-Organisiertheit” ein von Lebensart zu Lebensart neu zu lösendes Rätsel eigenwertiger Dynamiken, z.B. Wiederholung, Erneuerung, Rück- und Wechselbezüglichkeit aufgrund dessen, was die Individuen einer Art tatsächlich bemerken, bewegen und bewirken können. Oder in umgekehrter Richtung erfasst: wir (Beobachter) zeigen die strukturellen Besonderheiten einer Art auf und beschreiben aufgrund welcher “Bedingtheiten” ihre individuellen Vertreter faktische Sachverhalte aussondern und so ihr Milieu konfigurieren.

Wir meinen, dass die Lebewesen relativ zu ihrer physischen, organischen, animalischen und persönlichen Organisation den fraglos existenten Gegebenheiten spezifische “Wirk- und Merkmale” aufprägen, indem sie in räumlicher, zeitlicher und interaktiver Hinsicht spezifische Übergänge bemerken, bewegen und bewirken. Mit anderen Worten, sie selektionieren umweltlich relevante Sachverhalte aufgrund ihrer somatischen Organisation und bedingt durch ihre Aufbau- und Ablaufstrukturen. Unspezifische oder allgemein “umweltliche” Veränderungen spielen dagegen für sie eine marginale Rolle, zumindest solange sie diese nicht auch somatisch codieren, i.e. prozedural beachten, positional angehen und wirksam damit umgehen. Mit anderen Worten sie leben und überleben, sondern ihr Milieu operativ gemäß ihre strukturbedingten Anforderungen und begegnen schließlich den so bestimmten, spezifischen Herausforderungen ihrer Art und nicht einer anderen, obschon diese in der gleichen Umgebung leben mag. Die Sichtweise stellt einen Unterschied zu herkömmlichen Betrachtungsweise dar, der einen kleinen Unterschied ausmacht aber zu belangreichen Unterscheidungen führen wird.

Denn wir sind überzeugt, dass weder – wie in evolutionären Ansätzen strapaziert – die Umwelt noch die Genmischung die fittesten Lebewesen doppelt zufällig auf ein Optimum hin aus sortiert, sondern die lebendigen Vertreter einer Population unterscheiden geeignete von ungeeigneten Bedingungen und bestimmen ihr Milieu operational. Wir stützen unsere Ansicht auf das Gesetz der erforderlichen Vielfalt von Ross W. Ashby (1945, 1956, 1962). Stets begegnen Lebewesen einer Vielfalt an Möglichkeiten ihres Umfelds, die ihre Kapazitäten übersteigt. Damit haben wir das Konzept “Komplexität” operativ definiert. Da ist mehr an Potenzial im Umweltraum als sie fassen, mehr als sie erreichen und mehr als sie tun können, um damit fertig zu werden, d.h. ganz praktisch betrachtet, in verschiedene Lagen und Phasen der Veränderung zu überleben. Wer möchte, kann in diesen Sachverhalt den Druck der Umweltverhältnisse hinein deuten. Wichtig für den hier eingeschlagenen Pfad der Einsicht in die Entwicklung des Lebens allgemein und der menschlichen Art in Besonderheit ist, dass weder die Umwelt noch die Gene notwendig bestimmen, was die Individuen von Fall zu Fall verwirklichen.

Leben, wirksam operieren in einem Existenzbereich

Jede Lebensform und jedes Individuum orientiert, reguliert, gestaltet und erhält Leistungen, Vorgänge und Bewegungen autologisch. “Autologisch” bedeutet im Kontext von “Selbst-Organisation des Lebens”, dass jedes lebendige Wesen von einfachsten bis zu kompliziertesten Formen

  • fortlaufend eine mehr oder weniger große Vielzahl von aktuellen Veränderungen – gelenkt und geleitet von seiner Aufmerksamkeit – in Wechselbeziehung zu seinem Lebensraum “bemerkt”,
  • mitlaufend – während es sich bewegt, d.h. vegetaive, affektive und performative Prozesse umsetzt – “Perturbationen” identifiziert, indem es neu hinzu tretende Zustände mit den voraus liegenden Zuständen “vergleicht” und den Übergang gemäß eigener Wertmaßstäbe “einstuft” und “behandelt”
  • rücklaufend potenziell einflussreiche Aktivitäten zur Abhilfe und zum Ausgleich belastender Zustände “bewirkt”, und diese Maßnahmen solange fortsetzt und variiert bis erneut ein ausgewogener und robuster Zustand erreicht ist oder das Leben endet.

“Bemerken” bedeutet konkret, dass ein Lebewesen einen Strom an Ereignissen hier wie dort wahrnimmt und die Rezeptoren bereits “unterteilen”, was es sieht, tastet, hört, riecht, … und über andere Kanäle vermittelt erfährt. Indem es – rein rezeptiv – gewisse Ereignisse übersieht, andere dagegen fokussiert, aussondert, beibehält – dadurch gleichzeitig als “bemerkenswerte Sachverhalte” auszeichnet – und immanent weiter verarbeitet, “ordnet” jedes Lebewesen, was der Fall – und damit Umwelt – ist.

“Wahrnehmung” ist also ein Vorgang in dessen Verlauf ein Individuum bemerkt, was es rezeptorisch – aufgrund stammesgeschichtlicher, entwicklungsgeschichtlicher, sozialgeschichtlicher und nicht zuletzt auch individualgeschichtlicher “Angewohnheiten” oder “inkorporierter Muster” der Aufmerksamkeit – aussortiert und fokussiert.

“Bewegen und Vergleichen” bedeutet konkret, dass ein Lebewesen verschiedene Wahrnehmungen – Eindrücke, Erlebnisse, … – als Folge von fortgesetzten Lage- und Haltungsänderungen nach und neben einander erfasst. Wie bereits angedeutet sind bewegen und bemerken miteinander gekoppelte Aktivitäten jeden Lebewesens. Insofern wir von “koordinierten”, “orientierten” oder auch von “bedingten” Bewegungen sprechen, setzen wir Wahrnehmung und Aufmerksamkeitsfokussierung voraus.

“Vergleichen” verweist praktisch auf eine der Kopplung eingelagerte und mitlaufend praktizierte Aussonderung einer Seite – und nicht der anderen Seite. Welche Seite? Jede Option bietet mindestens zwei Seiten: was möglich ist, ist auch nicht-möglich. Das wäre die modallogische Version. Es gibt jedoch eine ganz praktisch codierte Variante: wenn wir (Lebewesen) uns vorwärts bewegen können, können wir uns auch rückwärts bewegen. Auch wenn uns grundsätzlich beides “möglich” ist, beides gleichzeitig zu verwirklichen ist unmöglich. Wir “müssen” uns “entscheiden”, erst das eine und wieder dasselbe und immer weiter so bis auf weiteres oder wir gehen einen Schritt vor, einen zurück. Müssen erfasst die Notwendigkeit zu selegieren, wollen wir uns von der Stelle bewegen, denn wir können nicht in zwei entgegengesetzte Richtungen ziehen.

Die Wahl-Entscheidungs-Theorie oder der rational-choice-approach geht ebenso wie die Prospect-Ansätze, die dem bounded rationality von Herbert A. Simon folgen darauf aus, die Entscheidung thematisch in den Vordergrund zu rücken. Dafür haben die Vertreter dieser Ansätze ihre Gründe. Wir diskutieren diese hier nicht, noch kritisieren wir die Verwendung. Für unseren Kontext sind die akademisch geschätzten Ansätze nicht erforderlich. Lebewesen verhalten sich abhängig von eigenwertigen Mustern der Perzeption.

“Bewirken” bedeutet konkret, dass tatsächlich nur wirksame Korrekturen die Lage des Lebewesens regulieren und stabilisieren können, unwirksame Aktivitäten können zwar entlasten, laufen in der anliegenden Sache und bezüglich eine Regulierung ungleichgewichtiger Zustände aber leer oder fatalerweise in den Untergang. Leerlauf erfordert alternative Maßnahmen.

Allgemein gesprochen, Individuen verschiedener Art operieren – somatisch, sensorisch, motorisch und interaktiv – in einem durch ihre Strukturen bestimmten Milieu. Im Unterschied zur umfassenderen Umgebung, konstituieren und extrahieren verschiedene Lebewesen ihre faktische Umwelt operativ im Vollzug existenziell erforderlicher Prozesse.

Indem einzelne und Gruppen von Individuen einer Art mit bestimmten Elementen ihrer Umgebung – Individuen einer anderen Arten und unbelebten Dingen – ko-existieren und mit für sie relevanten anderen Elementen aufgrund ihrer soma-sensu-motorischen Selbst-Organisation – inkorporierte Muster der Lebendigkeit, Sinnlichkeit, Beweglichkeit und Eigentätigkeit – ko-operieren, richten sie ihr Milieu faktisch entlang von konkret erfahrbaren Auswirkungen des Umgangs ein.

Mit anderen Worten, Lebewesen bewegen, bewirken und bemerken ihr Milieu – als Gesamt der somatisch erfassten, relevanten Lebensverhältnisse – in praktischem Vollzug auf der Basis von Beziehungen und Wechselwirkungen mit “selektionierten” Aspekten des Lebensbereiches. Die Konfiguration des Milieus erfolgt dabei weder zwangsläufig noch zufällig noch auch volativ. Sie verläuft kontingent entsprechend dem Verlauf der Interaktion und variiert u.a. je nachdem, wie stark die Zahl der Elemente der Interaktion und die Qualität der Beziehungen variiert.

Die Bedingtheit der Selektion geht von der Priorisierung der Lebewesen gegenüber der Umwelt aus. Wir nehmen also an, dass die Bestimmung wichtiger Wirk- und Merkmale für das Überleben primär von den beteiligten Individuen und Gruppen ausgehen muss, während die Umweltbedingungen dem gegenüber sekundär – in Bezug auf die Auswirkungen der Interaktion – zu Buche schlagen. Die Umweltbedingungen sind erkenntnistheoretisch betrachtet nach zu ordnen, was die Erklärung und Herleitung des Milieu-Konzepts anbelangt. Damit rücken wir lediglich die Ordnung zurecht, im Sinne einer interaktiven Archäologie der Lebensverhältnisse. Die Interdependenz der Beziehung und die Einheit der Unterscheidung Lebewesen/Umwelt resp. Mitwelt bleibt davon unberührt.

Was ist die Konsequenz dieser epistemologischen Korrektur? Lebewesen bemerken beispielsweise bestimmte Ereignisse und ihre Folgen als relevante Veränderungen gegenüber einem voraus liegenden eigenen Zustand (status quo ante). Nur Wandlungen ihres Milieus, die sie ko-relativ als relevante Veränderung ihres Zustandes bemerken, bearbeiten sie als potenzielles Erfahrungsfeld und eignen sich die entsprechenden “Lern-Erfahrungen” an. Und nur, was in diesem Sinne von einem Lebewesen registriert und als “Datum der Veränderung und Beständigkeit” unterschieden wird, kann zu einem späteren Zeitpunkt – wegen der kreisläufigen Konstitution und Verflechtung lebendiger Vorgänge – einen Unterschied ausmachen, d.h. das Individuum kann, weiß und will anderes und gleiches, um die Lage und Phase alternativ zu lenken.

Indem Lebewesen sich im Milieu ausrichten, bestimmen sie ihre aktuelle Stellung und bewegen Glieder oder den gesamten Körper von hier nach dort. Am potenziell bestimmten Ort ihrer Ankunft, z.B. nehmen sie irgend einen bedeutsamen und wichtigen Unterschied wahr und ignorieren tatsächlich, was immer sonst noch geschieht, weil es für sie belanglos ist.

Indem Lebewesen wirksam in ihren Milieus operieren, beeinflussen verschiedene Arten die Epigenese des Lebens an einem Ort, das Leben anderer Gruppen und die Zustände und Erlebnisse von Individuen mehr oder weniger stark, wobei “Ort” auch mit “Gebiet” und schließlich dem “Letzthorizont” Erde zusammen fallen kann. Immer aber integrieren die “Lebenden” die Ergebnisse und Folgen eigener und anderer Operationsweisen rekursiv als “Rückfluss”. Jedes Lebewesen integriert die Auswirkungen seiner Handlungen und Erlebnisse in den Fluss des Lebens.

Verflechtung oder Interdependenz – ein hoch spannendes Thema für die Menschenforschung, wie ich finde. Menschenforschung ist – ganz allgemein bestimmt – die Wissenschaft vom Menschlichen im Werden.

Prinzipien der Selbstbehauptung und Einbindung

Wenn eine Anzahl Lemminge in einem Steppengebiet genügend Nahrung vorfinden, entwickeln sich die Individuen und pflanzen sich fort. Je mehr Lemminge sich von den Futtergründen ernähren umso schneller wird es immer weniger. Schließlich reicht die Nahrung im Gebiet nicht mehr für die schnell gewachsene Gruppe an Tieren. Sie müssen wandern, um sich neue Lebensräume zu erschließen.

Individuen – gleich welcher Art – bilden durch ihr In- und Vor-Ort-Sein das leibhaftige Zentrum aktueller und potenzieller Ko-Ordination und Ko-Variation. Organismen sind epigenetisches Wirk-und Merkganzes und Teil eines epigenetischen Wechselspiels, das wir allgemein als Leben bezeichnen. Abhängig von ihrer Organisation können und müssen Individuen und Gruppen ihren Anspruch zu leben “behaupten” und wirksam “umsetzen”, indem sie in ihrem Milieu wirksam ko-existieren und integrieren.

So wie die Lemminge wandern und neue Futtergründe finden können, entwickeln sich jene Gruppen von Jägern für die Lemminge eine Beute darstellen. Selbst wenn die Wanderungen der Lemminge erfolgreich wirken und den Mangel an Gräsern, Kräutern behebt und was ihnen sonst als Nahrung dienen mag, heißt das nicht auch, dass die Individuen überleben und durch sie die Population fortbesteht.

Ich möchte nicht wiederkäuen, was jedes Schulkind im Biologieunterricht an “Know-How” über Regulation und Gleichgewicht zwischen Jäger- und Beutetier-Populationen bereits durchkaut. Weit spannender erscheint mir der Verweis auf “Prinzipien des selbstorganisierten Systems3”, einem Aufsatz von Ross W. Ashby aus dem Jahr 1962 und die Monographie: Introduction to Cybernetis aus dem Jahre 1956. In beiden Schriften thematisiert Ashby “Selbst-Organisiertheit” aber auch das Gesetz der erforderlichen Varietät. Das Gesetz formuliert ein zentrales Prinzip der rekursiven Interaktion unter ungleichgewichtigen Bedingungen. In der krudesten Form lautet das Ordnungsprinzip: Nur Varietät kann Varietät absorbieren (only variety can destroy variety). Im Aufsatz erfasst er die Bedingung der Möglichkeit zur Erfahrung von Überleben und Ausformung von Robustheit im Zusammenhang mit Ko-Existenz, Beweglichkeit und Kapazität lebender Einheiten.

Treten Zwischenfälle im Existenzbereich einer lebenden Einheit – Pflanze, Tier, Mensch und Gruppen der genannten Lebewesen – auf, ist es zunächst von entscheidender Bedeutung für die betroffene Einheit, dass sie über genügend Varianten verfügt, um mit einer Menge an Störungen oder Belastungen angemessen umzugehen. Sie muss in der Lage und dazu fähig sein, die Folgen der Zwischenfälle zu regulieren. Ashbys Gesetz sagt nicht, welche konkreten Maßnahmen oder Verhaltensweisen erforderlich sind, um mit der Störung/Gefährdung kompetent umzugehen. Es formuliert das Erfordernis, dass die Anzahl der Varianten zumindest gleich, die Anzahl an Gegenmaßnahmen idealiter um eins größer sein sollte, als auftretende Zwischenfälle. Ob die ergriffenen Maßnahmen und Umgangsweisen geeignet sind, die Gefahr der Überforderung und Überlastung zu beseitigen und damit einhergehende existenzielle Herausforderungen zu bewältigen, kann und muss die Erfahrung zeigen.

Eine kleine Geschichte mag das “Gesetz der erforderlichen Varianten-Kapazität” veranschaulichen. Ich erlaube mir die Umschreibung von Varietät als Varianten-Kapazität, weil das Gesetz darauf abzielt. Wie andere Vögel bauen Amseln Nester. Ich nehme an, es handelt sich um eine instinktive Verhaltensweise. Im Unterschied zum Fliegen, das Amseln wie Meisen erst lernen, bauen beide ihre Nester auf typische Weise, ohne dass sie erst Nestbau studieren müssten. So war es auch in diesem Frühjahr, von dem ich berichten möchte. Die Meisen nahmen Quartier im Nistkasten. Mutter und Vater Amsel suchten sich für ihr Gelege die zwei Jahre zuvor eingekürzte Scheinakazie aus, an der wir unsere Hängematte aufspannten. Die Schnittfläche – etwa Manns hoch gelegen, so groß wie ein Untersetzer – war mittlerweile gut geschützt durch ein Spalier aus jungen Trieben. Der Stumpf schien genau zu passen, denn bald krönte das Nest den prominenten Platz und die Amseln brüteten den Nachwuchs aus.

An jenem Tag im Frühling – ich korrigierte gerade ein paar Examensarbeiten im Garten – brach plötzlich die Hölle los. Zuerst schlugen Zaunkönig und Rotkehlchen heftig an und bald fielen die Amseln ein. Sofort setzten alle anderen Vögel in den angrenzenden Gärten gleichermaßen alarmiert ein. Das kann nur eines heißen: Iggy – Nachbars schneeweiße Katze – ist auf der Pirsch. Ob das Gezeter je eine Katze in die Flucht geschlagen hat, frage ich mich, während ich nach dem Urheber für den Tanz Ausschau halte. In jedem Fall scheint mir die Erregung mit Händen greifbar: alles was Federn und zwei Beine hat, geht in Resonanz. Halt, nicht alle, weder die Amsel-Mutter noch der Nachwuchs regen sich. So deutlich der Amsel-Vater auch anschlägt, im Gelege – immer wieder hörte ich den ganzen Mittag das hohe Fiepen der Sprösslinge und die Amsel im Gelege, wenn der Amsel-Vater emsig Futter brachte – ist kein Pieps zu hören.

Dass das Auftauchen der Katze für andere Lebewesen eine existenzielle Bedrohung darstellt, und zwar zumindest für alle Sing-Vögel, auch der angrenzenden Gärten, lässt sich aufgrund der alarmierenden Ketten-Reaktion vermuten. Alles scheint in helle Aufruhr versetzt. Die Amsel im Nest und ihre Jungen – und ich vermute, gleiches gilt für die Gelege der Meisen, Rotkehlen, Zaunkönige, Mönchshauben – sind auf diese Weise jedenfalls alarmiert. Sie halten sich mucksmäuschenstill, jede Aktivität ist wie erstarrt.

Und man muss kein Ornitologe sein, um zu erfassen, dass diese Stille von großer und existenzieller Bedeutung ist, während Iggy soeben die letzte Stufe nimmt und das Plateau betritt, auf dem sich der Nistplatz befindet. Kein Laut gibt ihm einen Hinweis, wo es gefiederte Beute geben könnte, so sehr seine Ohren den Raum abtasten und belauschen. Einmal mehr denke ich – wie schon anlässlich eines Nestes in einer Fensternische – dass Amseln es ihren Feinden und potenziellen Jägern, z.B. Katzen, Mardern, Hähern nicht gerade schwer machen, während Iggy, wie ein Traumwandler – sei es zufällig oder instinktiv – dem Nest immer näher kommt.

Iggy ist eine Hauskatze, d.h. sie lebt im Haushalt unserer Nachbarn I. u. N. Der “Stubentiger” hat also zwei zweibeinige “Dosenöffner”, die ihr mit allem versorgen, was sie zum Überleben benötigt. Dass Iggy – wie viele ihrer Artgenossen in vergleichbar komfortabler Lage – trotzdem jagt, schreibt man gewöhnlich der instinktiven Seite zu: die Katze lässt das Mausen nicht. Mit anderen Worten, unsere Geschichte mag einen tragischen Verlauf nehmen, die Katze verhält sich gemäß angeborener Verhaltensweisen und folgt ihrer “Natur”, wie das Gros ihrer Artgenossen, selbst dann, wenn sie mit ihrer Beute “spielen”.

Gleiches gilt natürlich auch für die Amseln. Noch während ich meinen moralinen Gedanken nachhänge, erstaunt mich der Amsel-Vater gerade. Nicht weniger erstaunt scheint Iggy, die einem Sturzflug verdutzt ausweicht. Sie mögen der Katze zwar in mancher Hinsicht unterlegen scheinen und das Nest mag Mutter und Kinder kaum geschützt präsentieren. Aber ihre “Natur” liefert sie keinesfalls schutzlos aus. Dem ersten Angriff folgen eine Reihe weiterer Attacken von verschiedenen Seiten. Obwohl Iggy sichtlich irritiert scheint, das Feld räumt die Katze deshalb nicht. Fast sieht es so aus, als ob die ungewöhnliche Attacke sie geradezu bestärke, die “Stellung” sozusagen zu halten. Bei soviel Gegenwehr und Einsatz muss es was zu verteidigen geben. Aber hüten wir uns, Iggy menschliche Denkweisen zu unterstellen und halten uns weiter an die Fakten.

Dass die “Angriffs-Strategie” – wie ich die wiederholten Eingriffe des Amsel-Vaters einmal nennen möchte – die Katze zwar situativ ablenkte und ihre Aufmerksamkeit beanspruchte, die Gefahr für das Gelege nicht grundsätzlich beseitigte, scheint der Amsel jedenfalls deutlich geworden zu sein. Eben noch furioser und mutiger “Kämpfer”, gebärdet sie sich plötzlich als flügellahmer “Invalide”. Mit hängendem Flügel, der auf einer Seite gepreizt und lahm herunter hängt, sitzt sie am Boden. Und mit dieser “Inszenierung” gewinnt sie nicht allein meine, sondern auch Iggys volle Aufmerksamkeit. Jedenfalls nimmt die Katze die lahme Amsel nicht nur ins Visier, sondern pirscht sich an die Beute an.

Wieder müssen wir darauf achten, nicht von einer kalkulierten Offerte der Amsel auszugehen, weil das Verhalten zwar menschlich passen könnte, aber der Amsel nicht gerecht würde. Offensichtlich handelt es sich aber um eine “Finte”. Zumindest legt das Verhalten der Amsel eine solche Zuschreibung nahe. Was für uns als Publikum nahe liegt, entgeht der Katze. Sie wechselt unwillkürlich in den “Jäger-Modus”, erfasst die Beute und vergisst – jedenfalls in diesem Stück der wechselvollen Geschichte -, was sie sonst noch befasst hat. Denn diesmal gelingt es der Amsel die Katze – über mehrere Schritte – über den Abhang weg vom Gelege zu locken. Obwohl ich beide schließlich aus dem Bick verliere, zeigt mir die einkehrende Ruhe, dass Iggy den Garten verlasen hat, während der Amsel-Vater – nicht lange danach – unversehrt und heil zum Nest zurück gekehrt ist.

Mit diesem – für diesmal – glücklichen Verlauf für die Amseln zurück zum Konzept der erforderlichen Varietät. Die Vielfalt (engl. variety) der Amseln im Blick auf ihre Verhaltensmuster erweist sich als erforderlich bei ihren Versuchen mit der bedrohlichen Situation “fertig zu werden” (engl. to cope with sth.). Auf verschiedene Weise versucht sie die Gefahr zu beseitigen. Am Ende gelingt es die Bedrohung abzuwenden. Wäre die “Strategie” auf eine Verhaltensweise aus zwei kombinierten Operationsweisen – tot-stellen der Nest-Amseln und Angriff der Versorger-Amsel – beschränkt geblieben, hätte die Variantenvielfalt nicht ausgereicht, um mit der “Störung” – dem Auftauchen der lebensbedrohlichen Katze – fertig zu werden. Die Lösung bedarf einer zusätzlichen Option. Der Amselvater stellt die fluglahme “Beute” dar, lenkt die Aufmerksamkeit der Katze erfolgreich auf sich, beseitigt die Gefahr, indem er den Jäger vom Nest weglockt.

Die erforderliche Verschiedenartigkeit oder notwendige Vielfalt bildet eine wesentliche Voraussetzung für lebendige Einheiten – Individuen und Gruppen – die Risiken ihres Existenzbereiches prinzipiell meistern zu können und mit dem Variantenreichtum erlebter Störungen Bedrohungen in Beziehung zur Umgebung wirksam klar zu kommen.


Die Prozesse der Verortung, Orientierung, Verräumlichung, Verzeitlichung und Vergesellschaftung basieren auf Anlagen, Irrtum, Versuch und Einsicht der Individuen einer Art. „Diejenigen, die keine Vorstellung davon haben, das es möglich ist zu irren, können nichts lernen, außer Know How “ (Gregory Bateson).

Reifung mag als Prozess verstanden, mehr oder weniger automatisch ablaufen und dabei jeweils neue Horizonte der Erfahrung für ein Lebewesen eröffnen oder abschließen. Entwicklung bedeutet dann – aus der Sicht bisher praktizierten Erfahrungen d.h. Bewegungen, Vorgänge, Verhalten, Handlungen – im Blick auf erweiterte Horizonte angelegentlich auftretende Veränderungen/Kontinuitäten über körpereigene, ungleichgewichtige Verhältnisse zu bemerken und über körpereigene Bewegungen soweit erforderlich und angezeigt zu beeinflussen, z. B. zu kooperieren, zu konfligieren, zu fliehen.

Lernen vor diesem Hintergrund, setzt voraus, dass die in das Geschehen involvierte Einheit irren kann und nicht seitens angeborener Muster fixiert oder determiniert reagiert. Ob Irrtumsfähigkeit eine erforderliche Voraussetzung für Lernvorgänge darstellt oder nur eine bestimmte, das werden wir noch zu erörtern haben. Lernen ermöglicht einem Lebewesen jedenfalls neu kombinierte Muster zu behaupten und zu integrieren.

Wie auch immer die leibkörperlich Lösung praktisch aussieht, wenn sie leistet, was sie soll, können wir – in der Rolle des Zuschauers oder “Beobachters” dem Vorgehen das Prädikat: “wirksam” zu oder ab sprechen. Unabhängig von der Qualifizierung durch unbeteiligtes und beteiligtes Publikum – unter der zugegeben pragmatischen Perspektive – erlaubt und ermöglicht die eingesetzte Um- und Vorgehensweise einem Individuum – und einer umfassenden Gruppe vor Ort – mit der Situation zu leben. Indem Lebewesen Hemmnisse, Unterbrechungen und Störungen eigener Vorgänge soweit erforderlich beseitigen oder reduzieren, dass sie ihre Prozesse – weitgehend ungestört – fortsetzen können, operieren sie auch autologisch effektiv.


LITERATUR

Adli, M. The CRISPR tool kit for genome editing and beyond. Nat Commun 9, 1911 (2018). https://doi.org/10.1038/s41467-018-04252-2


  1. Die dabei eingesetzte Technik heißt CRISPR. Umfangreiche technische Informationen über das dabei wirksame und programmierbare Enzym Cas9 enthält der Artikel von Mazhar Adli The CRISPR tool kit for genome editing and beyond in der Zeitschrift Nature. Einige moralische Hintergründe bietet der Artikel CRISPR ethics: moral considerations for applications of a powerful tool erschienen in Nature und frei erhältlich unter https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6286228/f
  2. Plastizität läge ebenfalls nahe, ist jedoch ein Substantiv, das in der Anthropologie einen speziellen Einsatz findet. Arnold Gehlen hat es bereits genutzt, um die Formbarkeit eines Lebewesens zu kennzeichnen. Allerdings führt er die Platizität darauf zurück, dass Menschen nicht nur in einem Zustand der “Primitivität” geboren werden und – nach ihm – prinzipiell in diesem Zustand der Unspezialisiertheit verbleiben: Da der “Mensch” evolutionistisch betrachtet im Fötalzustand geborenen werde – so argumentiert etwa Arnold Gehlen – sei er “noch nicht festgelegt”, und daher betrachtet er den Menschen als “Mängelwesen”.
  3. Erstmals taucht der Begriff “self-organizing” in gedruckter Form in der früheren Fassung von 1947 auf. Vgl.: Principles of the Self-Organizing Dynamic System. In: Journal of General Psychology. Vol. 37, 1947, S. 125–128.