Rekursive Organisation lebendiger Systeme

Solange ein Lebewesen lebt, erzeugt, erhält und reguliert es die vitalen Strukturen und Vorgänge, die es dazu benötigt durch sich selbst. Aufgrund einer struktiv verflochtenen Bauweise, einer wechselseitig bedingten Organisation der Teile und Abläufe erzeugt, erhält und reguliert sich ein Lebewesen selbst. Natürlich erfordert auch der eigenständig in Gang gehaltene und in Bewegung gesetzte Lebensprozess kontinuierlich Energie. Je nach Größe und Aktivität benötigen Lebewesen zum Erhalt mehr oder weniger Energie. Aber auch diese gewinnen Organismen einzig durch den Vollzug eigener Transformations- und Konversionsprozesse, u.a. indem sie Nahrung, Licht, Luft umwandeln und in eine Form bringen, die sie benötigen, aber eben nur so tatsächlich verbrauchen, verwenden und verwerten können.

Ich gehe von der Annahme aus, dass jedes Lebewesen die Einheit seiner Teile eigenständig erzeugt und auf bestimmte Zeit durch kreisläufige Prozesse energetisiert und erhält. Jedes Lebewesen demonstriert unserer Vermutung genau jetzt durch seine Lebensfähigkeit und wiederholt diesen Nachweis bis auf Weiteres. Auf dieser Grundlage operiert die Einheit eigenwertig im Wechsel mit bedeutsamen und veränderlichen Bedingungen: sie überlebt immer wieder und existiert weiter, – zumindest bis auf weiteres.

Rekursive Organisation lebendiger SystemeWer selektioniert und variiert wieEin irritierbarer Fluss an Vorgängen und VerrichtungenRahmung und Kontextualisierung von BedeutungKörper – Medium und Produkt lebendiger ProzesseWelchen Vorteil bietet der autopoietische Ansatz für die evolutionäre Perspektive?

Die Frage nach der Eigendynamik und Rekursivität der Lebensprozesse hat zwei chilenische Neurobiologen in den 1980er Jahren motiviert einen Paradigmenwechsel vorzuschlagen. Sie rekonstruieren Leben allgemein aufgrund der struktiven Organisation der Lebewesen und sehen die Lebensfähigkeit primär bestimmt durch die rekursive Operationsweisen verschiedener Formen.

„Unser Vorschlag ist, daß Lebewesen sich dadurch charakterisieren, daß sie sich – buchstäblich – andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir ihre Organisation autopoietische Organisation nennen (griech. autos = selbst; poiein = machen).“

Maturana, H. R., Varela, F. J., (1987): Der Baum der Erkenntnis, S.50f.

Im Unterschied zur konventionellen Sicht einseitiger Umweltdeterminiertheit und in Ermangelung allgemeiner Merkmalsklassen definieren Maturana und Varela „Leben“ als „effektives Operieren im jeweiligen Umweltmilieu“.

Gleichzeitig wird deutlich, dass in dieser Konzeption und Modellierung

  • Aufbau – im Blick auf die konstitutionelle Bedingtheit mit einander verknüpfter Teile der Einheit –
  • Anlagen – im Blick auf dispositionelle Orientierung im Verhältnis Einheit/ Umwelt –
  • Leistungsfähigkeit – im Blick auf konditionelle Kapazitäten im Kontrast verschiedener Wege zur Lösung –
  • Stand-Ort – im Blick auf die eingenommene Position und potenzielle Reichweite des Wirkraumes –
  • Zeit – im Blick auf kontinuierliche Veränderungen des augenblicklich erreichten Zustandes oder Überganges –

eine wesentliche Rolle für die Verwirklichung der Wechselbeziehung lebendiger Einheiten zu ihrer Umgebung spielen. Die Einsicht lässt vermuten, dass es sich bei dem Vorschlag um ein Prozessmodell handelt.

Sind die ökologischen Rahmenbedingungen insoweit gewährleistet, dass sie die Lebensform nicht eleminieren, funktioniert Leben bezogen auf essentielle Dynamiken wie z.B. zellulärer Metabolismus (Zellstoffwechsel), Photosynthese, Atmung, … aus sich heraus. Einmal begonnen re-produziert ein Lebewesen sich fortwährend – biochemisch, vegetativ, somatisch und neuronal … – gemäß der eigenen, struktiv angelegten Ordnung bis es damit aufhört.

Die Organisation und Strukturen bilden die notwendige Voraussetzung für die Kontinuität der Operationen rekursiv geregelter Eigen-Bewegung. Die Erfüllung geeigneter Umweltbedingungen stellt dagegen die hinreichende Grundlage zur Erklärung einer stets kreisläufig verwirklichten Organisation des Lebens dar, etwa in Hinblick auf Unversehrtheit und Ressourcen für den Betrieb interner Prozesse eines Organismus.

Das Modell löst die kausal-mechanistische Vorstellung ab, dass die „Umwelt“ oder der „Druck der Umgebungsbedingtheiten“ primäre Ursache für Aussonderung der Lebensformen darstellt. Das Primat verlegen Maturana und Varela zurück in die lebendige Instanz. Das Lebewesen selbst – im Blick auf die spezifische Organisiertheit des Lebens – bestimmt oder „selektioniert“ sein Milieu aufgrund seiner Operationsweisen und Strukturen und nicht umgekehrt.

Wer selektioniert und variiert wie

Es liegt auf der Hand, dass unterschiedliche Formen des Lebens bestimmte Anforderungen an ihre Umgebung stellen. Kehrt man die Perspektive um, bestimmt die Zusammensetzung der Umgebung, was für eine Lebensform überhaupt und wie sie unter diesen Bedingungen überleben wird. Den technischen Begriff der natürlichen Selektion hat Darwin bereits 1856 mit der Idee der „natürlichen Zuchtauswahl“ vertreten: The Origin of species by means of natural selections.

Die Vertreter der Synthese in der Evolutionserklärung postulieren die „Selektion durch Umweltbedingtheiten“ noch heute, auch wenn einige mittlerweile eine Wechselbeziehung einräumen (vgl. E. Mayr 1990 Kap. 6). Allerdings unterfüttern und ergänzen sie Darwins Ansatz in Kombination mit molekularbiologischen Erkenntnissen moderner Genetik, daher kommt auch der Begriff „Synthese“.

Insbesondere sind nach dieser Modellierung nicht länger Individuen mehr Träger der Entwicklung, sondern – wie ebenfalls bei Darwin schon im Anschluss an Paley und Malthus angelegt – Bevölkerungen (Populationen). Mit der Differenzierung (Teilung) und Kombination (Zusammenführung) der Zellen bei der Fortpflanzung (Meiose) erklären Synthetiker – auch als Neo-Darwinisten bekannt – die Vielfalt der Arten (Variation) bei gleichzeitig „besseren“ Überlebenschancen der Fitten oder ökologisch Angepassten im „Überlebenskampf“ (Selektion).

Mit der zweiten Komponente des darwinschen Modells, der Variation, kommt dabei der reine Zufall in das Spiel des Lebens. Zufall erlaubt keine Vorhersagen. Dass die Neodarwinisten den Zufall gleich zweimal bemühen müssen, bleibt trotz Molekularbiologie und entschlüsselter Genom-Struktur die Achillesverse der Hypothese. Darüber hinaus bleibt offen, ob sich die Erwartungen und Hoffnungen auf die Molekularbiologie als „trojanisches Pferd“ erweisen könnten, wie der Evo-Devo Ansatz zeigen mag.

Doch das ist eine ganz andere Geschichte. Wir widmen uns nun einer kritischen Betrachtung des Konzepts Autopoiesis. Wie andere Begriffe (und Ansätze z.B. die Evolutionsthese) basiert auch dieses Konzept auf einer Tautologie. Der Unterschied besteht darin, dass die Tautologie zwar zur Beschreibung echter Phänomene eingesetzt, aber nicht als objektive Wirklichkeit verkauft wird. Das finde ich nicht nur sympathisch, sondern adäquat.

Ein irritierbarer Fluss an Vorgängen und Verrichtungen

„Autopoiesis“ dient – folgt man Maturana – lediglich dazu, die Organisationsform lebender Systeme, besonders Zellen darzustellen und zu beschreiben. Das Konzept sei kein Erklärungsprinzip.

Als solches nutzt es Niklas Luhmann für seine Systemtheorie. Nach der autopoietischen Wende wird das Konzept zum (Pro-)Motor der kommunikativen Operationen. Ist die Kommunikation – das operative Letztelement der Gesellschaft – einmal in Gang gebracht, knüpft sie schier endlos an Kommunikation an.

Für Maturana dagegen stellt der Begriff eher ein Etikett dar. Es weist auf die Unterscheidung von Organisation und Struktur des Lebens hin. Wird diese Unterscheidung ignoriert, bleibt das Konzept seinerseits unverständlich.

Lebewesen operieren abhängig von ihrer Organisation mehr oder weniger nachhaltig: sie überleben exakt solange, wie sie die eigenen Prozesse wirksam fortsetzen. Die Operationsweise verschiedener Arten unterscheidet sich – ausgehend von der zellulären Ebene – in Ausdruck und Form – vgl. z.B. Embryonen und ausgewachsene Formen – mehr oder weniger deutlich. Form und Ausgestaltung im Medium (Milieu) wird jedoch durch spezifische Strukturen maßgeblich bestimmt. Diesen Sachverhalt bezeichnen die Maturana & Varela mit dem Prädikat strukturbedingt.

Die Interaktion wie auch die biochemischen, vegetativen, somatischen und neuronalen Zustandsveränderungen – eines Lebewesens oder einer Gruppe von Individuen einer Art – können dabei fraglos von veränderlichen Größen oder Ereignissen der Umgebung ausgelöst, angeregt, bedroht, begünstigt, ermöglicht oder eingeschränkt werden. Obwohl die Vorgänge von Lebewesen durch den Lebensumraum beeinflusst werden, ihre Lebensfähigkeit wird jedoch weder im eigentlichen Sinn allein noch ursächlich von dieser Seite der Beziehung determiniert.

Stets bestimmt zunächst die strukturelle Organisation, welche Auswirkung ein erfasstes Geschehnis – die jeweilige „Perturbation“ in der Diktion von Maturana & Varela – für das Lebewesen in seinem vor-Ort-und-jetzt-im-aktuellen-Zustand-sein hat. Letztere Formulierung subsumiert die historische Lage und Phase des aktuellen Zustands, relativ zu den direkt vorausliegenden und indirekt „vermerkten“ Erfahrungen des Lebewesen im Fokus der Betrachtung.

Mit anderen Worten, das Lebewesen bestimmt aufgrund seiner Ausstattung (struktive Konstitution), Anlagen (generische Dispositive) und Kapazitäten (konditionelle Potenziale), was eine relative Veränderung von Größen der Umgebung potenziell bewirken kann und wie es mit der veränderten Lage/Phase wirksam verfährt resp. mit den erfassten „Perturbationen“ aktuell umgeht.

Was aber bezeichnen wir genau mit „Perturbation“ oder „Irritation“? Vergegenwärtigen wir uns im Blick auf ein Lebewesen seine autopoietische Organisation. Es handelt sich um eine geschlossene Einheit, die fortgesetzt bestimmte „Leistungen“ erbringt und aufrecht erhält.

  • stoffliche Bewegungen, z.B. Entropie, Wärmeaustausch, Reibung, Widerstand,
  • vegetative Vorgänge, z.B. Stoffwechsel bei Säugetieren oder Fotosynthese bei Pflanzen, Sprossung bei ungeschlechtlichedn Lebewesen, Fortpflanzung, Wachstum, Entwicklung, Reifung, …
  • animalisches Verhalten, z.B. Reflexe wie den Speichelfluss, Instinkte wie Orientierung, Bedarfsdeckung, Fortpflanzung angetrieben durch Bedürfnisse oder Empfindungen
  • informative Handlungen, z.B. rahmen, täuschen, sprechen, schreiben, irren,

Operativ betrachtet ist der „normale“ Betrieb also – unterschiedslos welche konkrete Lebensform wir auch beobachten – am Laufen [solange die Einheit lebt]. Verschiedene kreisläufig aufgebaute und rekursiv durchlaufende Verrichtungen z.B. „Photosynthese“, „Atmung“, „Stoffwechsel“ werden nicht nur kontinuierlich umgesetzt, sie beanspruchen auch einen Großteil der dabei erzeugten „Mittel“.

Auch hier treten erfahrbare Schwankungen oder „natürliche“ Veränderungen auf. Die veränderliche Konstitution gehört – schlicht ausgedrückt – zu den immanenten Merkmalen lebendiger Organismen. Eine faktische Folge sind „Ermüdungen“ durch Verbrauch von Energie für die Bewegung der somatischen Vorgänge und animalischen Aktivitäten. Bei lebendigen Einheiten treten aufgrund kontinuierlich umgesetzter Kreisläufe unweigerlich entropische und negentropische Tendenzen auf.

Negentropie oder negative Entropie wirkt der Entropie entgegen. Entropie bezeichnet das durch kontinuierliche Verluste erzeugte Phänomen, dass die Bewegung eines unbelebten Körpers zum Stillstand hin tendiert. Mit anderen Worten, die „mess- und beobachtbare“ Bewegungsenergie – mechanisch-physikalisch gesprochen: die kinetische und thermische Energie eines Körpers – sinkt kontinuierlich ab bis das Niveau den Wert „Null“ erreichen wird.

Ein wichtiges Beispiel liefert die Sonne. Sie stellt das physische Zentrum mit 99,86 % der gesamten Masse unseres Sonnensystems. In ihrem Kern findet die Umwandlung von Wasserstoff in Helium statt, eine Fusion die große Mengen an Energie erzeugt. In Form der Sonnenstrahlung bildet diese Energie die Grundlage für die Entwicklung des Lebens.

Im Unterschied zu unbelebten Materiekörpern zeigen lebendige Systeme diese Tendenz und eine dieser universell anerkannten Tendenz entgegengerichtete Tendenz, die ich in diesem Aufsatz als grundsätzliches Kriterium der Unterscheidung heran ziehe. Negentropie, wie wir sie bei allen lebendigen Formen von der Organelle bis zu den riesigen Land- und Meereslebewesen beobachten, fällt mit Lebensfähigkeit zusammen. Die konstitutionell, dispositionell und konditionell angelegte Organisation jeder bekannten Lebensform wirkt der für Materiekörper typischen kontinuierlichen Absenkung des Energieniveaus entgegen. Wir vermuten in der negentropischen Tendenz ein allgemeines Anzeichen für Leben.

Unsere Annahme lautet vor diesem Hintergrund wie folgt: Lebendige Systeme zeigen im Wechsel mit entropischen Veränderungen regenerative, regulative und affiliative Operationen, z.B. ruhen, essen, trinken, paaren, … Neben eine unbestrittene Abnahme des energetischen Niveaus treten gegenläufig ausgerichtete, kreisläufig organisierte Strukturen und Prozesse lebendiger Bewegung.

Wir bezeichnen diesen Vorgang als autopoietischen Prozess, im Unterschied zum allopoietischen Prozess. Das Verhältnis der beiden kennzeichnen wir als komplementäre Einheit der Differenz von anorganisch/unbelebt und organisch/belebten Systemen. Lebewesen oder autopoietische Systeme verwirklichen in der entropisch begrenzten Spanne ihrer materiellen Existenz negentropische Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Sie zeigen regenerative, affiliative und regulative Ausgleichsaktivitäten aufgrund eines eigenmächtig betriebenen Umlaufs. Dabei heben sie ihr veränderliches Energie- und Informationsniveau im Wechsel, Kontakt und Austausch mit der Umgebung. Immer wieder führt Verlust und Verbrauch systemimmanent erzeugter Energien zu erneutem Mangel und Bedarf, bis das Leben als originärer und eigenwirksamer Vorgang endet.

Der Wechsel macht einer lebendigen Einheit regelmäßig wiederkehrende, ähnliche Zustände, wie Empfindung eines Mangels (Bedürfnisse) deutlich, kann aber auch gleichwohl mit völlig unbekannten Situationen korrelieren. Solche Zustandsübergänge sind der Einheit unmittelbar im Rahmen ihrer kreisläufig organisierten Vorgänge erfahrbar.

Immanente Zustandsübergänge stellen widerkehrende, doch „unproblematische“ Vorgangsphasen dar. Unproblematisch deshalb, weil bereits vertraute Gewohnheiten, inkorporierte Verrichtungen und eingelebte Prozeduren vorhanden sind, durch die die Einheit – einzelne Lebewesen und Verbünde – ungleichgewichtige Zustände wieder verflüssigt und auflöst. Die Regulierung geschieht „routinemäßig“ über „vorhandene“ Operationspfade.

Mit anderen Worten immanente Zustandswechsel werden von Lebewesen „immer wieder“ und „bis auf weiteres“ gemeistert. Sie stellen keine außergewöhnliche Anforderung an den Verlauf, erfordern weder zusätzliche Neuerungen noch ergänzende Mittel, Aufmerksamkeit, Auf- und Zuwendungen, … Vielmehr handelt es sich um vertraute Wege und erprobte Verfahren z.B. der „Bedarfsdeckung“; es sind sozusagen „vorgesehene“, „eingerichtete“, da wiederkehrende Veränderungen mit denen der Organismus immer schon fertig wird. Vermutlich bedarf ihre Erledigung nicht einmal des Einbezugs höherer Zentren des Gehirns. (Zu Prüfen)

Der Aufbau, Betrieb und Verbrauch spezifischer Leistungen eines Organismus erfordert „Mechanismen“ der Koordination, der Überwachung und des Ausgleichs. Ich möchte allerdings betonen, dass die Funktionsweise des Lebens nicht mit dem von Maschinen oder Automaten – weder mechanischen noch autonomen – verwechselt werden darf. Im Unterschied dazu kommen Perturbationen aufgrund von transzendenten Erfahrungen – damit bezeichnen wir die aus der Interaktion mit der Umgebung resultierenden Veränderungen von Zuständen – zustande.

Pragmatisch betrachtet, gibt es für Lebewesen relativ zu Ereignissen und Vorgängen ihrer Umgebung mindestens zwei Arten von Sachverhalten: belanglose und belangreiche. „Belangreiche“ Ereignisse irritieren Lebewesen, einmal abgesehen von dem Umstand, dass die Auswirkungen positiv/angenehm oder negativ/leidvoll ausfallen. Was macht den Unterschied?

Die Frage müsste stimmiger lauten: wer trifft die Unterscheidung und bestimmt damit, welche Klasse von Umweltereignissen eine „Perturbation“ ausmacht? Wir „Beobachter“ sollten sie schon allein deshalb nicht treffen, weil wir dann Gefahr laufen, unsere Kategorien und Sichtweisen der Erfahrung auf andere Lebewesen zu übertragen. In der Folge vermenschlichen wir sie und verzerren damit, was wir untersuchen und was wir erkennen. Es liegt auf der Hand, was uns stört oder interessiert, muss weder unseren Hund Filou, noch auch die Herde Antilopen in der afrikanischen Savanne, noch die Gruppe Schimpansen im Urwald von Borneo und nicht einmal unsere Zeitgenossen auf gleiche Weise noch auch überhaupt „angehen“.

Wird Leben und Sterben tatsächlich und in erster Linie durch eigene Strukturen, Kreisläufe und Zustände bestimmt, so vielfältig Lebendiges auch organisiert sein mag? Verhält es sich im Blick auf das Primat der Bestimmung so, wie selegieren Lebewesen dann ihre faktische Umwelt aus einem Meer an möglichen Aspekten unter der Bedingung von – teils lethalen – Risiken?

Rahmung und Kontextualisierung von Bedeutung

Versuchen wir eine neutrale Bestimmung der Klasse von Ereignissen, die Lebewesen irritieren und die Maturana & Varela Perturbationen nennen.

Starten wir mit einer prüfbaren Aussage: Es gibt lebendige „Körper“.

Ja, aber auch lebendige „Körper“ bestehen aus Materie, z.B. Mineralien, Kohlenstoff wie nicht-lebendige „Körper“, z.B. Edelsteine. Das ist richtig. Allerdings bestehen Lebewesen nicht ausschließlich aus anorganischen, sondern aus einer Vereinigung von anorganischen und organischen Materialen.

Die struktive Ausstattung bedingt, dass lebendige „Körper“ fähig sind, eigenständige Bewegungen auszuführen, und zwar energetisieren Lebewesen dazu die eigene Formgestalt relativ zu vorherigen, eigenen wie umweltlichen Niveaus. Sie heben ihr Energie-Niveau, indem sie Lichtwellen oder Partikelteilchen aufnehmen und für die Umwandlung von Molekülen nutzen, z.B. Kohlendioxid in Sauerstoff und Kohlenstoff oder Calciumkarbonat in Wasser und Kohlenstoff (prüfen).

Sie erzeugen und sammeln Energie in ihren Körpern an, die entgegen einer entropischen Tendenz eine negative Richtung aufweist. Boltzmann-Schrödinger nannten das Phänomen wohl deshalb „Negentropie“. Jedenfalls sammeln Lebewesen die Energie nicht allein für den Eigenbedarf, sondern speisen die hergestellte Negentropie auch zurück in die Umgebung resp. Biosphäre.

Kritiker könnten unserer Argumentation entgegenhalten, dass ja auch Edelsteine mineralisieren. Das stimmt, doch erfolgt die Bewegung unter bestimmten Bedingungen und aufgrund von Einflüssen, die auf den Zustand der Materieform einwirken und sie umwandeln. Die Ursache für die Veränderung sind Erhitzung und Verdichtung, die von außen auf die Materie, in diesem Fall Kohlenstoff einwirken. Dadurch mineralisiert Kohlenstoff beispielsweise zu Graphit und Diamant. Diamanten stellen Menschen seit 1955 bei hoher Temperatur ca. 3000 Grad und einem hohen Druck von ca. 200000 atmosphärischen Einheiten her.

Nimmt eine lebendige Einheit anhand eigener Vorgänge und Verrichtungen wahr, dass ein Unterschied in der Situation eingetreten ist, merkt das betroffene Lebewesen auf und „schaut sich um“. Eine lebendige Einheit kann verschiedenes darstellen: eine Zelle, ein Zellverbund, ein Bakterium, ein Bakterienstamm, Pilze, Pilzkolonien, unterschiedlich Pflanzen, Tiere, Menschen oder eine Gruppierung davon, …

„Situation“ bezeichnet die sukzessiv durch sinnlich-bewegliche Operationen und Ortsveränderungen erfasste Lage einschließlich einer Vielzahl aktueller und potenzieller Auswirkungen relativ zu Ausstattung, Anlage, Kapazität, Standort und Gegenwart. „Vorgang“ bezeichnet die sukzessiv durch Zustandsübergänge der Binnenstruktur bemerkte und bewegte Phasen eines Ereignisses oder Geschehens aufgrund der lokal, temporal und relational dynamischen Ein- und Rückbindung einer strukturbestimmten Einheit an den selegierten Lebensraum (Milieu). Den damit identifizierten Potenzialraum bezeichnen wir als die faktisch relevante Umwelt im Kontrast zur Umwelt, wie z.B. wir Beobachter sie subtraktiv in Abgrenzung zum Lebewesen voll-umfänglich rekonstruieren.

Aufgrund dieser für sie relevanten Aspekten komponiert die Einheit die potentielle und aktuelle Auswirkung von Veränderungen. Die Qualifizierung einer Irritation die wir z.B. dimensional entlang von proximal-distal operationalisieren könnten als „zu nah“ oder „weit genug entfernt“ um unwichtig zu sein, erfolgt über Intervalle, die je nach Bauart spezifisch ausfallen.

Konkret und pragmatisch gesprochen, von allen möglichen Irritationen zeichnen sich Perturbartionen dadurch aus, dass sie aktuell und potenziell Auswirkungen auf die Organisation haben, also die Konstitution und die Disposition ver- bzw. zerstören können. Das ist der Grund, warum die betroffene Einheit auf „Lösung“ oder „Beseitigung“ umschaltet. Sehr anschaulich demonstrieren Lebewesen die Lösungsbereitschaft auf der Verhaltensebene. Je nach Typ stehen die Modi „Angriff“, „Flucht“, „Starre“ oder bei Menschen sogar eine „Mixtur“ der drei bereit.

Aufgrund ihrer leibkörperlichen Organisation – strukturdeterminierter Aufbau- und Ablaufformen – setzen verschiedene Lebewesen erforderliche wie zugeschriebene Leistungen rekursiv um, oder/und sie verzichten aufgrund eigenwertiger „Innerlichkeit“ (Portmann) auf eine Realisierung in der gegebenen Situation. Faktisch gesprochen: sie überleben immer wieder und bis auf weiteres.

Körper – Medium und Produkt lebendiger Prozesse

Eine besondere Rolle in dem großen Bild nimmt der „Körper“ ein. Die Funktion eines Lebewesens besteht aus dem, was es faktisch „leistet“, was seine Bauweise bedingt, ermöglicht, erfordert und einschränkt.

Betrachten wir den kontinuierlichen Beitrag zur Reproduktion des Lebens – der Individuen einer Population als auch der Art – besteht kaum ein Zweifel, wir sprechen von „Körper“ als Medium und Produkt der Evolution. Wir bezeichnen aber eben auch die Bedingung der Möglichkeit zur Interaktion, Reproduktion und Verwirklichung des Lebens der Individuen und Gruppen.

Was will ich damit ausdrücken? Wir haben bereits erörtert, dass der Körper für unsere Rekonstruktion der Interaktion von Spezies und Milieu, von Individuen und Umgebung und von Populationen und Umwelt eine denknotwendige Instanz markiert. Der Körper fungiert als eigenständiger Umschlagplatz, als bipolare Schalt- und Nahtstelle in zwei Richtungen.

Beide Momente, Zirkularität und Prozessualität weisen auf eine zwei- und mehrschichtig gelagerte Dynamik hin. Sie mit linealen Konstrukten wie z.B. Sprache zu erfassen, stellt eine nicht gerade einfache Herausforderung dar. Die Gefahr besteht, dass wir das fluidale und rekursive Moment der Logik opfern. Logische Rekonstruktionen abstrahieren nicht nur vom Besonderen auf das Allgemeine, sie unterschlagen auch, dass Zeit nicht allein eine quantitative Einheit darstellt, sondern in qualitativer Hinsicht einen Unterschied machen kann, der eine Unterscheidung darstellt.

Kategorien und Kausalitäten sind hilfreich, wenn wir in einem aristotelisch-russelschen Sinn die Welt auf dichotome oder zweiwertige Identitätssätze reduzieren und das Vorgehen als „verallgemeinern“ begreifen wollen. Dabei haben wir es nur von Zufälligkeiten und Widersprüchlichkeiten befreit und zwar per definitionem. In technischer Hinsicht ist die vereinseitigende Klarstellung von Bedeutung. Sie dient mit Bestimmtheit und Eindeutigkeit zur Erzeugung von Widerspruchsfreiheit. Eine mit logischen Sätzen konstruierte Maschine verstrickt sich bei ihrrn Operationen nicht in Paradoxien.

Versuchen wir in erster Annäherung eine Bestimmung von „Interakt“ zu gewinnen, indem wir eine Modellierung der Formgestalt vornehmen. Soviel sei gesagt, ein Interakt stellt das letzte Glied der Interaktion. Und wir können ein Faktum der Kleingruppenforschung ergänzen: in kleinen Gruppen besteht die soziale Kontrolle aus der Interaktion ihrer Mitglieder.

Ob Austausch, Feedback, Feedforward, Regelung oder Kontrolle, jede Beziehung hat mindestens zwei und möglicherweise mehr Seiten vom Standpunkt des „Körpers“ aus betrachtet: hier und dort, jetzt und dann und zuvor und jetzt, so und anders. Wir sprechen von Veränderung der Lagen, Phasen und Statuten des Körpers relativ zum Stand-, Zeit- Bezugs- und Reife-/Entwicklungspunkt.

Vom Beobachterstandpunkt aus kommen weitere – grundsätzlich aber verschiedene – hinzu, innen und außen, subjektiv-objektiv, … Hier müssen wir, so schwierig es sein mag, klar unterscheiden. Denn für ein Lebewesen in situ sind andere Unterscheidungen von Belang als die Dichotomien, die wir Beobachter anwenden.

Das Lebewesen „bestimmt“ aufgrund seiner strukturellen Verfasstheit (Konstitution und Disposition), was effektives Operieren bedeuten kann und was nicht. Konstitution, Disposition und Kondition bedingen einander, und zwar kapazitativ, interaktiv und situativ. Die Bedingtheit wiederum bestimmt die „verfügbaren Maßnahmen und Ressourcen“ eines Individuums als veränderliche oder bewegliche Größen, durch deren Verfügung und Einsatz es mit der Irritation/Perturbation fertig werden vermag, aber nicht zwangsläufig fertig werden muss. Was ein Individuum dabei beeinflusst und reguliert – jedoch weder originär herstellt noch steuert – ist, wie die Episode im Rahmen dessen verläuft, was es fokussiert und bewirkt.

Beachten wir jedoch: „Zielerreichung“, „Antwortverhalten“, „Instinktreaktion“, „Ein- und Umsichtiges Verhalten“, „Lernen“, „Entlastung“, „Erfüllung“, „Selbstbehauptung“, „Integration“, „Krisen“, „Zuspitzungen“, „Kampf“, „Flucht“, „Starre“, „Lösungen“, … sind Erklärungsprinzipien, nicht anders als „autopoietische Systeme“. Wir kennzeichnen diese Annahme, indem wir die Worte einklammern.

Sobald wir die Anführungszeichen jedoch weglassen, entsteht eine andere Indikation. Die Begriffe beschreiben Sachverhalte und vermitteln unserem Publikum den Eindruck, dass die Sache wirklich und genau so und nicht anders ist, als wie wir sie beschreiben. Allerdings ein Begriff zeigt eine Sache an, ist aber nicht mit ihr gleichzusetzen noch sollten wir beide Seiten des Verweisungszusammenhangs mit einander verwechseln.

Aufgrund ihrer natürlichen Vielfalt binden sich Organismen selektiv in das Lebensumfeld ein und an für sie und ihre Lebensweise bedeutsame Bedingungen zurück. Diesen pro- und rekursiven Vorgang hat bereits Jakob von Uexküll Funktionskreis genannt und die „Planmäßigkeit“ im Rahmen seiner Umweltforschung zu Anfang des 20.Jahrhunderts untersucht. Seine Arbeiten relativierten den anthropozentrischen Objektivismus der Physiologen seiner Zeit. Dass er selbst seiner Konzeption auf den Leim ging und den Namen mit der Sache vertauschte, dazu später mehr. Uns befasst der Sachverhalt „Umwelt“ als interaktiver und praktischer Rahmen, was Leggewie in Abhebung des von Uexküllschen Terminus als „faktische Umwelt“ präzisierte.

Die Organisation von Lebewesen gleicht anderen in Hinblick auf die autopoietische Dynamik der Selbstorganisation. Verschiedene Organismen unterscheiden sich jedoch durch unterschiedliche Strukturen und Prozesse (z.B. Pflanzen und Tiere) [vgl. a.a.O.:55] Im Unterschied zur evolutionären Modellannahme eröffnet das autopoietische Konzept nicht nur eine prinzipielle Relativierung der unidirektionalen Bestimmtheit durch Umwelt, wie sie bereits von Uexküll durch einfallsreiche Experimente aufzeigen konnte.

Das Prinzip autopoietischer Organisation ersetzt die einseitige umweltliche Bedingtheit lebendiger Formen durch ein wechselseitiges Einflussverhältnis. Damit spezifizieren Maturana und Varela die Möglichkeit der Erfahrung von Selektivität bilateral. Das Konzept verweist im gleichen Zug auf die Interaktion der Individuen einer Gruppe mit dem Lebensraum aufgrund topischer Zentrik wie auf die Autonomie von Lebewesen durch die rekursive Verfasstheit von existenziellen Strukturen und Prozessen.

Fazit: Lebewesen ko-evoluieren mit ihrer Umwelt. Sie selektionieren relevante Aspekte, ko-operieren mit signifikanten und existenziellen Größen des faktischen Lebensraumes oder Nische. Sie variieren ökologischen Einfluss, indem sie sich selbst ständig neuerschaffen und ihre Existenzbedingungen (Milieu) spezifizieren. Konsequenterweise ist für Maturana und Varela das besondere Merkmal von Organismen, nicht die Organisation an sich, sondern dass das einzigste Produkt ihrer Organisation, die Organismen selbst sind. [vgl. a.a.O.:56] Für die Spezialisierung auf Zellstoffwechsel durchaus eine plausible Erkenntnis.

Durch seine autopoietische Organisation schließt sich jeder Organismus auf der Ebene reproduktiver Prozesse gegenüber einer wie auch immer gearteten veränderlichen Umwelt ab. Und das ist, nicht nur bezogen auf den Zellstoffwechsel, sondern auf eine kreisläufige Verfasstheit anderer Vorgänge lebendiger Systeme notwendigerweise der Fall. Gelingt diese fortwährend hergestellte Schließung nicht mehr, endet der Organismus. Nur durch Schließung gelingt es die lebenswichtigen internen Strukturen und Prozesse (z.B. Metabolismus, Blutkreislauf) aufrecht zu erhalten, die das Über-Leben des Organsystems gewährleisten.

Alle Notwendigkeit zur strukturellen Geschlossenheit auf der organisationalen Ebene reproduktiver Erneuerung und Stabilisierung der Lebensprozesse, schließt nicht aus, dass Lebewesen offen sind für Interaktion mit der Umwelt. Atmen und Nahrungsaufnahme sowie unterschiedliche Ausscheidungen und Signale deuten diese austauschende Zusammenarbeit im Verhältnis von Lebewesen und Umwelt an. Die Geschlossenheit stellt also nichts anderes als die Bedingung der Möglichkeit zur Bestimmung der Interaktion dar, definiert gleichzeitig die Chancen und Risiken der jeweiligen Vertreter einer Art zu überleben.

In beide Richtungen beobachtet man notwendig Umwandlungen. Denn es gibt keinen untransformierten Transfer von Einheiten aus dem System oder in das System, solange der Organismus lebt. Alles was ein Organismus aufnimmt, muss in eine Form gebracht werden, die kompatibel ist mit den Anforderungen der autopoietischen Verfasstheit des Lebens. In untransformierten Zustand kapselt der Organismus das Aufgenommene als Fremdkörper ab.

Sehr anschaulich schützt uns (Menschen) unsere Haut, indem sie Einflüsse filtert, manches aufnimmt anderes ausschließt. Nur das was durch die interne Struktur als zuträglich spezifiziert, entsprechend in Form gebracht wird, kann tatsächlich die neuronal-physischen Schranken passieren und verwertet werden. Jede andere Form der Aufnahme zerstört die autopoietische Lebensbasis.

So wie man von struktureller Geschlossenheit spricht, kann man die Kehrseite operative Offenheit nennen. In der Kybernetik spricht man von in-formationeller Offenheit, hier setzen wir die interaktive Konversion in eins und gleich. Doch dieser „Austausch“ beruht, wie dargelegt, auf einer voraus gesetzten Autonomie. Aus dieser Sicht wird deutlich, dass der Organismus aufgrund seiner Schließung erst fähig wird, das Verhältnis zur Umwelt autonom zu bestimmen bzw. zugleich die Möglichkeit und Notwendigkeit verwirklicht, seine Lebensbedingungen sprich sein faktisches Milieu zu selegieren, zu spezifizieren und zu definieren.

Interaktive Offenheit und strukturelle Abgeschlossenheit bilden eine differentielle Einheit. Das klingt wie ein Widerspruch in sich (Paradox). Ein Paradox lässt sich logisch betrachtet nicht auflösen und verhindert den Wissensgewinn oder die technische Nutzung. Doch die Einheit der Differenz von informationeller Offenheit bestimmten Existenzbedingungen (Klima, Nahrung, Feinden etc.) gegenüber und operative Abgeschlossenheit zur autopoietischen Reproduktion des Organismus lässt sich, wie jedes Lebewesen und jede lebensfähige Art ipso facto zeigt, praktisch wirksam entfalten. Leben bedeutet effektives Operieren eines Organismus im jeweiligen Milieu.

Auffällig ist die Selbstbezüglichkeit der Bestimmung von Leben. Selbstverfasstheit von Leben tritt damit als zu berücksichtigendes Element in Relation zu Umwelteinflüssen. Die schlüssige Konsequenz besteht in der Annahme einer potenziellen „Wechselwirkung in Form einer Irritation“ zwischen autonomen Lebewesen und umweltlichen Rahmenbedingungen und zwar in beide Richtungen. Doch Interaktion allein genügt nicht als Erklärungsmodell. Denn wie dargelegt, es gibt keine Übertragung im eigentlichen Sinn zwischen der operativ geschlossenen Einheit und der faktisch selegierten Umwelt. Der kreative – oder vielleicht besser – der kreatürliche Umgang mit Irritationen schafft eine parallele Situation mit möglichen und notwendigen Korrespondenzen, deren unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit überdurchschnittlich häufig zur Herausforderung zu überleben passt.

Welchen Vorteil bietet der autopoietische Ansatz für die evolutionäre Perspektive?

Das autopoietische Modell mag man als Fortschritt oder als Paradoxiefalle auffassen. Nach meinem Dafürhalten ergänzt das Konzept der selbstreferentiellen Verfasstheit von Lebewesen das evolutionäre Modell an der Stelle der Variation und befreit damit von der einseitigen Sicht eines unbedingt wirkenden Umweltzwanges, häufig verdinglicht als „Anpassungs- und Selektionsdruck“.

So griffig die Metapher scheint, weitgehend unklar bleibt, wer hier Druck ausübt, welche physikalische Größe erzeugt „Pression“ und warum wirkt diese auf den Körper und zwingt zur Anpassung an die Verhältnisse als conditio sine qua non? Oder sprechen wir von Metaphern des viktorianischen Zeitalters im Kampf gegen den Klerus mit „Gott“ als metaphysischer Gegenthese zu weit greifbareren, natürlichen Kräften der jungen Mechanik?

Der evolutionäre Dreisatz Variation, Selektion und Restabilisierung wird erweitert zu Gunsten einer kybernetisch angemesseneren Fassung. Sie setzt bei der Ko-existenz von System und Umwelt an. Von dieser wechselbezüglichen Differenz optioniert der re-formierte Ansatz für Ko-evolution qua Ko-Existenz. Dadurch entsteht ein Möglichkeits- und Notwendigkeitsraum für die Verwirklichung von Ko-variation, Ko-selektion und Ko-formation.

Das Verhältnis von System und Umwelt lockert sich auf. Unabhängig von dem Sachverhalt, ob es sich um eine Beziehung zwischen organischen Systemen in Konkurrenz um gleiche Ressourcen oder das Verhältnis zwischen organischen Systemen und anorganischen Lebensraumbedingungen handelt, zunächst spezifiziert eine Lebensform ihre faktische Umwelt. Durch kontingente Kopplung zwischen konkurrierenden Lebewesen ebenso wie im Verhältnis ko-existenter Lebewesen – Milieu, entstehen ungeplant offene Spielräume: Chancen und Risiken, Nischen, unwahrscheinliche Formen von Leben.

Das Ergebnis unserer Erörterung bedeutet und unterstreicht zunächst nur, was wir heute wissen: es gibt kein Finalgesetz der Evolution, das da lautet, Überleben im Daseinskampf wird stets der Bestangepasste.